Krokodil im Nacken
haben als die sofort Weggeschickten, machte er sich auf den Heimweg. Einer der Schauspielschüler, ein kleiner, lustiger Kerl, der später sicher einmal Shakespeare’sche Narrenrollen spielen würde, kam ihm nachgelaufen. »Mach dir keine Sorgen, Großer. Hast gewiss Talent. Die machen immer so geheimnisvolle Gesichter.«
Der schriftliche Bescheid kam vierzehn Tage später. Lenz hatte den Eignungstest bestanden und wurde gebeten, für die Aufnahmeprüfung drei ihm nachfolgend benannte Rollen einzustudieren, eine davon sollte eine komische sein: der Sosias aus Kleists Amphitryon .
Er studierte die Rollen ein, hatte viel Spaß dabei – und zögerte: Wenn er tatsächlich Schauspielschüler wurde, wovon sollten Hannah, Silke und er dann leben? Hannahs Einkommen allein reichte nicht und sein kleines Stipendium würde schon für Zigaretten draufgehen; selbst wenn er sich das Rauchen abgewöhnte, würde es nicht reichen.
Hannah sah andere Probleme. Nach Abschluss der Ausbildung würde ihr Manne vielleicht nicht in Berlin bleiben dürfen. Was, wenn er nach Schwerin oder Erfurt ins Engagement musste? Silke und sie würden auf gar keinen Fall mitgehen; sie hatte hier ihre Aufgabe, wollte nicht das Weibchen sein, das ihr Männchen alle drei, vier Jahre woanders hinbegleitete. »Da müsste ich mir ja ständig neue Arbeitsstellen suchen, da würde ich ja nirgendwo warm werden.«
Auf Hannah und Silke verzichten? Nur auf Kurzbesuche nach Hause kommen? Das kam für Lenz nicht infrage. Zumal er ja auch gar nicht wusste, ob er genügend Talent hatte. Der Weg zum großen Schauspieler führte durch ein enges Türchen, viele kamen da nicht durch. Was, wenn er zwar die Aufnahmeprüfung bestand, es aber bei ihm nur zu Kleinstrollen langte und er die auch noch irgendwo weit hinter den sieben Bergen spielen musste? Ja, und war nicht die Tatsache, dass er sich diese Frage überhaupt stellte, Beweis genug, dass es ihn nicht mit aller Macht zur Bühne drängte? Ein leidenschaftliches Talent hätte auf nichts Rücksicht genommen, sondern alle Bindungen und Bedenken beiseite gefegt, nur um zur Bühne zu gelangen. Vielleicht war ja seine Schreiberei die ihm viel gemäßere Form, sich auszudrücken.
Keine leichte Entscheidung, diese Absage an die Filmhochschule. Es hätte ihn schon interessiert, ob er die Aufnahmeprüfung bestanden hätte. Doch was, wenn ja? Dann würde er es Hannah eines Tages vielleicht noch übel nehmen, dass er diese Chance nicht ergriffen hatte. – Nein, lieber keine Probe aufs Exempel! Lenz behielt seinen mit der Laterne herumfunzelnden Sosias – »He da! Holla! Ist da wer?« – für sich und machte sich mal wieder auf die Suche nach einer neuen Arbeitsstelle. Er fand sie in der Reinhardtstraße – nur hundert Schritt vom Deutschen Theater entfernt. Der Große Regisseur hatte Humor.
Er wurde Außenexpedient; eine Art besserer Beifahrer. Die Firma, für die er arbeitete, nannte sich Versorgungsdepot für Pharmazie und Medizintechnik . Lenz jedoch hatte nur mit der Technik zu tun; er lieferte medizinische Apparate und Instrumente aus, Röntgenfilme und Dentalartikel. Mit einem Kraftfahrer an seiner Seite ging es kreuz und quer durch die Stadt; Ärzte, Apotheken und Krankenhäuser waren seine Kunden.
Das Gehalt war nicht besonders hoch, doch dafür war er von keiner Norm abhängig. Vor allem aber fühlte er sich nicht mehr weggesperrt; er kam unter Leute und in Stadtteile, die er so gründlich noch nicht kennen gelernt hatte. Und sein schmales Einkommen konnte er durch Trinkgelder aufbessern. Flossen sie zu spärlich, half er nach. Beliebter Trick: Privatärzten nur die Hälfte der bestellten Ware liefern, den Rest auf dem LKW belassen. Jammerten dann die Sprechstundenhilfen oder der Herr Doktor persönlich, versprach er mit Leidensmiene, noch mal ins Depot zu fahren, um den von den schusseligen Kollegen vergessenen Rest zu holen. War die Tour beendet, fuhren der Kraftfahrer und er wieder bei der Praxis vor, lieferten, was noch fehlte, blickten in lauter dankbare Gesichter und steckten – »Aber das ist doch nicht nötig!« – jeder ein Fünfmarkstück, manchmal auch einen Zehner ein.
Pit Segler, Lenz’ Kollege, gut aussehender, blonder Dreißiger, Vater von fünf Kindern und bekennender Alkoholiker, hatte dem Neuen diesen Trick beigebracht. Anfangs genierte Lenz sich ja ein bisschen, später fand er diese Art von Erziehung zur Großzügigkeit nur noch lustig. So funktionierte sie eben, die sozialistische Welt.
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