Krokodil im Nacken
Gütekontrolle musste er immer wieder Fragebögen ausfüllen. Er ließ auch das über sich ergehen. Was hätte er denn tun sollen? Den Felix Krull spielen? Aufbegehren? Heulen? Von Hannah und Silke erzählen? Sagen, dass er doch gerade erst eine Aufnahmeprüfung bestanden und ab September einen Studienplatz hatte? Sie hätten ihn ausgelacht. Jeder, der hier von Raum zu Raum gescheucht und begutachtet wurde, als sollte er morgen geschlachtet werden, hatte eine Freundin oder Frau mit Kind oder irgendwelche rosigen Zukunftsaussichten. »Da können wir unsere Armee ja gleich dichtmachen, wenn wir auf jedes Privatvergnügen Rücksicht nehmen wollen«, hatte der rotblonde, dickliche, kindergesichtige Junge zu hören bekommen, der ebenfalls schon einen Studienplatz hatte und immer wieder mit den Tränen kämpfen musste.
Nach über drei Stunden Hin-und-Her-Gescheuche und zwischenzeitlichen Wartepausen war es dann endlich so weit: Lenz wurde vor die Musterungskommission geführt. »Sie dürfen sich freuen. Sie sind kerngesund und damit truppendiensttauglich für den Ehrendienst in den Reihen unserer Nationalen Volksarmee. Wir beglückwünschen Sie dazu.« Sie legten seinen Wehrpass vor ihn hin und empfahlen ihm, das Dokument sicher aufzubewahren. Es gehöre nun zu ihm wie ein Körperorgan. Sie lachten herzlich und drückten ihm die Hand. »Wir haben Sie unseren Luftstreitkräften zugeteilt. Der Schutz des Luftraums der DDR sollte jedem Soldaten – in diesem Fall Flieger – eine besondere Verpflichtung sein. Haben Sie noch Fragen?«
Lenz hatte keine Fragen. Auf das freundliche »Auf Wiedersehen« antwortete er nicht. Wie betäubt wankte er davon, raus aus diesen Räumen, runter auf die Straße.
Truppendiensttauglich! Früher hieß so etwas kriegsverwendungsfähig. Ein Stempel wie auf dem Schlachthof: gesund, keine Trichinen, keine Salmonellen, darf geschlachtet werden … Komisch, dass er immer wieder ans Schlachten denken musste! Es war doch kein Krieg, die Strategie der Abschreckung funktionierte … Dennoch: Irgendwann vor fünfzig Jahren war sein Großvater so gemustert worden, vor fünfundzwanzig Jahren sein Vater; immer wieder traten neue Weißkittel vor neuem Kanonenfutter hin, begutachteten es und scherzten heiter, wenn einer seine Vorhaut zu zögerlich zurückzog. Und danach wurde man dazu beglückwünscht, ein so taugliches Opfer zu sein. Es ging ja um eine gute Sache! Jedes Mal ging es um eine gute Sache! Mal mussten Kaiser, Volk und Vaterland vor böswilligen Neidern verteidigt werden, mal sollte am arischen Mord- und Totschlagwesen die Welt genesen, mal der Sozialismus vor dem kapitalistischen Klassenfeind beschützt werden. Was die Beglückwünschten dachten, interessierte nicht; rief der Staat, war der Staatsbürger kein eigenständiger Mensch mehr, sondern nur noch Menschenmaterial.
Auch für Hannah keine gute Nachricht. Anderthalb Jahre waren eine lange Zeit; sie lag wie ein dunkler Tunnel vor ihnen. Würden sie aus diesem Tunnel herauskommen, wie sie hineingegangen waren?
Immer öfter packte Lenz der Zorn: Er wollte nicht Soldat werden, er hasste Waffen, hasste jedes Strammstehen und Marschieren. Doch verweigerte er den Dienst an der Waffe, musste er Bausoldat werden; auch anderthalb Jahre, auch Kaserne, auch Uniform, aber eben nur arbeiten, nicht schießen müssen.
Alles Schöngeister, überzeugte Christen und leicht zerbrechliche Bürgersöhnchen, hieß es über die Soldaten mit dem kleinen, grau lackierten Messingspaten auf den Schulterstücken. Er aber bewunderte sie: Sie hatten laut und deutlich nein gesagt und dafür ihre Zukunft geopfert. Denn das war klar, keiner von ihnen würde je studieren dürfen; wer einmal den Spaten auf den Schulterstücken trug, der durfte weiterschippen. Wenn er Pech hatte, bis an sein Lebensende. Und lehnte jemand auch den Spaten ab, wanderte er in den Knast.
Aber durfte denn er, Manfred Lenz, zwei Jahre lang Abend für Abend für nichts und wieder nichts die Schulbank gedrückt haben? War er es seiner Zukunft, war er es Hannah und Silke nicht schuldig, diese anderthalb Jahre Schütze Arsch auf sich zu nehmen, um danach endlich mal was aus sich machen zu dürfen?
Was für ein trostloser Frühling, was für ein belastender Sommer! Unterbrochen wurde die Wartezeit auf den Gestellungsbefehl, der ganz sicher rechtzeitig zum Herbst eintreffen würde, nur von den Paukereien fürs Abitur und der triumphalen Anschaffung eines Fernsehapparates.
Im Fernsehen sah Lenz
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