Krokodil im Nacken
WestBerlin wieder. Straßen, die er mal gekannt hatte, wie sehr hatten sie sich in den zurückliegenden vier Jahren verändert! Und wie würden sie nach weiteren vier, acht, vielleicht sogar zwölf Jahren aussehen! Oft träumte er nachts vom S-Bahnhof Gesundbrunnen, dem Westbahnhof seiner Kindheit. Der Bahnhof war gespenstisch leer, und auch in der Bad- und Brunnenstraße, die an den Bahnhof grenzten, war weit und breit niemand zu sehen. Verstört lief er durch die menschenleeren Straßen und stand vor mit Brettern vernagelten Türen und Schaufenstern. Alles mal Geschäfte, in denen er für die Mutter eingekauft hatte. Lebte denn hier niemand mehr? Irgendwann suchte er dann den Weg zurück, in seinen Teil der Stadt, zu Hannah und Silke, und fand ihn nicht. Immer aufgeregter, immer ängstlicher hetzte er durch die verlassenen Straßen, bis er endlich aufschrak und sich erlöst und dennoch bedrückt in der Wirklichkeit wiederfand.
Das Westfernsehen machte, dass er auch den Ostteil der Stadt wieder aufmerksamer wahrnahm. Kam er an einem U-Bahnhof vorüber, dessen Eingänge vermauert waren, weil hier die West-Bahn fuhr, die den Osten der Stadt ohne Halt durchquerte, starrte er diese Eingänge an, als wollte er einen Durchbruch riskieren; hörte er eine solche U-Bahn unter einem der vergitterten Entlüftungsschächte vorbeirauschen, stellte er sich die Menschen darin vor. Machten sie gelangweilte Gesichter, oder dachten sie daran, dass über ihnen Leute spazierten, die genauso berlinerten wie sie und dennoch in einer ganz anderen Welt zu Hause waren?
Welch seltsame Fügung, dass ausgerechnet in dieser Zeit des Lernens und Wartens, der Träume und Beobachtungen eines Tages Erwin Pietras bei Lenz auftauchte. Erwin aus Saarbrücken; Erwin, der auf der Insel eine Zeit lang sein Zimmergenosse war; Erwin, der Vorzeigearbeiterjunge aus dem Westen, der wusste, wo der wahre Fortschritt beheimatet war. Doch wie hatte er sich verändert! In abgerissenen Kleidern stand er vor der Tür, arbeitete nicht, schnorrte sich nur so durch. Sein möbliertes Zimmer hatte er aufgegeben, völlig verpennert hauste er mit einem Schlafsack und seiner Plattensammlung in einer leer stehenden Hinterhofwohnung.
Er wollte in seine Heimat zurück, der Erwin Pietras, war enttäuscht vom Sozialismus. Jetzt aber gab es eine Mauer und Gesetze, die für alle galten, auch für Zugereiste wie Erwin Pietras oder Hannah Lenz. Erwins Plan: Wenn der DDR-Staat erkannte, dass er an ihm, Erwin Pietras, dem Asozialen, keinen Gewinn mehr hatte, würde man ihm die Heimreise vielleicht doch gestatten.
Hannah gab ihm zu essen, Lenz kaufte ihm ein paar Schallplatten ab, damit er wenigstens ein paar Mark in der Tasche hatte. Erwin aber kam wieder. Jedes Mal, wenn er den Hunger nicht mehr aushielt, klopfte er bei ihnen. Hannah fand diesen ehemaligen Mitbundesbürger nicht sympathisch, doch durfte Lenz einen »Insulaner« im Stich lassen?
Am Ende wurde Erwin zum Dieb und Betrüger. Er hatte erkannt, dass er dem jungen Paar nicht ewig auf der Tasche liegen konnte, und kam einem eventuellen Rausschmiss zuvor, indem er Hannah und Lenz vorlog, dass er eine Erbschaft erwartete. Aus dem Westen natürlich. Ein Teil des recht ansehnlichen Betrags werde in Ostwährung ausgezahlt, für den Rest dürfe er über eine östliche Firma im Westen einkaufen. Ob sie ihm bis dahin nicht fünfzig Mark leihen konnten? Er erwarte die Überweisung jeden Tag.
Sie wussten, um was für ein Geschäft es sich handelte, und gaben ihm die fünfzig Mark, die ihnen fehlen würden – bezahlten ihn dafür, dass er nicht wiederkam. Diese fünfzig Mark jedoch reichten Erwin nicht. Als er einen Augenblick allein im Flur war, durchsuchte er Lenz’ Jacke, fand die Monatskarte für den Bus, mit dem Lenz jeden Morgen zur Arbeit fuhr, und steckte sie ein.
Nur wenige Wochen später erfuhr Lenz über einen gemeinsamen Bekannten, dass Erwins Plan nicht aufgegangen war. Die DDR-Behörden hatten den asozialen Pietras nicht in seine Heimat entlassen, sie hatten ihn zur Erziehung in ein Arbeitslager eingewiesen.
5. Im Schnee
W ie Lenz an jenem sonnigen Novembermorgen von Hannah und Silke, die ja nicht begriff, dass ihr Papi am Abend nicht wieder heimkehren würde, Abschied nahm! Wie er sich zwingen musste, den Weg zum Bezirksamt einzuschlagen! Wie sich dann so nach und nach immer mehr zukünftige Rekruten mit ihren Köfferchen, Kartons und Taschen dort versammelten und er immerzu daran denken musste, dass gleich
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