Krokodil im Nacken
sie vor Langeweile über ihre Mutter zu schimpfen. Sie lasse ihr keinerlei Freiheit, meckere nur ständig an ihr herum. Da machte er seinen größten Fehler. »Na ja«, sagte er, »wenn man keine Mutter mehr hat, ist das aber auch kein Vergnügen.«
Nein, das war kein wilder Manne, der da mit der schwarzen Lore durch die Finsternis zog. Zwar spielte sie bis zum Ende mit und verabredete sich für den nächsten Tag mit ihm, als er aber am Abend darauf frierend in der Dunkelheit stand, schickte sie nur ihre Freundin: »Lore kann heute nicht.«
Wütend auf sich selbst stand er noch eine Weile auf dem LPG-Hof herum, auf dem es nach Mist und faulen Kartoffeln stank, als auf einmal ein Mädchen aus Lores Klasse vorbeikam, die große, hagere Dorothea, an der vor allem die hoch toupierte Frisur auffiel und die schon seit längerem ein Auge auf ihn geworfen hatte, ihm aber nicht sehr gefiel. Zwei, drei Worte und schon zog er mit ihr über die Felder, fragte sie, ob sie Hosentaschen habe und ob es darin warm sei, und küsste sie heftig. Sie küsste zurück, ein Motorrad kam vorbeigeknattert, der Lichtkegel des Scheinwerfers erfasste sie. Thea wollte sich von ihm lösen, er küsste weiter. Was gingen sie die Bauern an, die hier nachts durch die Gegend tuckerten?
Der Bauer auf dem Motorrad aber war kein Bauer, sondern der Biologielehrer Koschwitz, der zu seinem allergrößten Ärger nur den knutschenden Romeo, nicht aber die knutschende Julia erkannt hatte. Noch am gleichen Abend leuchtete er mit seiner Taschenlampe alle Strohsäcke ab, bis er den Romeo gefunden hatte. Zu dritt standen die Lehrer um ihn herum, und der Koschwitz versuchte aus ihm herauszubekommen, wer denn die Julia war. Doch natürlich: Ein Kavalier genießt und schweigt. Für Klassenlehrer Neubert und Deutschlehrer Bachner – von den Schülern wegen seines stalingemäßen Schnauzers und dem vollen, nach hinten zurückgekämmten Haar nur Wissarionowitsch genannt – war Mannes Schweigen eine Selbstverständlichkeit, für »Kotzwitz« eine Unverschämtheit. Tagelang hackte er auf diesem Vorfall herum und machte Manne Lenz damit endgültig zum Weiberhelden. So wurde er auch für Lore wieder interessant. Erneut saßen sie beim Abendbrot einander gegenüber, sie spitzbübisch lächelnd, ganz das lustige, nette, aber auch freche Mädchen, er grinsend, breitschultrig, hochgekrempelte Hemdsärmel, jeder Zoll ein Mann; viel zu schade für die Schule. Die Freundin kam, eine Verabredung für Berlin wurde getroffen. Und auch Thea, die glaubte, nur weil er sie so liebte, hätte er sie nicht verraten, schickte ihre Freundin; Manne wusste überhaupt nicht, was sie von ihm wollte.
Auf der Fahrt zurück nach Berlin hielt er den Kopf aus dem Zugfenster, aus dem Nachbarfenster blickte Lore in die vorbeifliegende Landschaft. Der Dreck aus der Lokomotive flog ihnen in die Gesichter, doch sie hielten aus, sahen sich an, strahlten sich an. Danach: das erste Treffen in Berlin. Da lief er wieder stundenlang nur Händchen haltend und quasselnd neben ihr her, obwohl es doch am Britzer Kanal so herrlich dunkel und menschenleer war. Nicht ein einziges Mal versuchte er, sie zu küssen oder irgendetwas anderes Männliches zu tun. Lores nächster Freund, ein zwanzigjähriger Baumschulenweger Malergeselle mit rotem Kraushaar und schwarzer Lederjacke, kicherte jedes Mal nur belustigt, wenn Manne an ihm vorüberging. Dem blieb nichts weiter übrig, als sich an die Stirn zu tippen: Malergeselle! Da stand er doch drüber. In Wahrheit war er zutiefst verunsichert: Was war das nur, das ihn bei einem Mädchen, das ihm nichts bedeutete, zum stürmischen Knutscher und bei einem Mädchen, das ihm etwas bedeutete, zum schüchternen Heinrich machte? Oft stand er im Dunkeln auf der Straße und starrte zu Lores erleuchtetem Fenster hoch; es war seine Schuld, dass sie bei diesem Pinselschwinger gelandet war.
Der Liebeskummer hielt an, bis eine Neue ins Heim kam, ein Mädchen mit einem Schicksal, wie Picasso es hinter sich hatte. Ihr erfundener Name: Ellen Herz, ihr Rufname: Ella.
Ella sah aus, als wäre sie im Dschungel aufgewachsen – langhaarig, braunhäutig, schmales, kantiges Gesicht –, und benahm sich auch so. Wer ihr zu nahe kam, bekam irgendetwas an den Kopf: eine Teetasse, ein Marmeladenbrötchen oder einen Stein. Sie hatte mehrere Pflegeeltern hinter sich und war jedes Mal schon innerhalb der Garantiefrist, wie sie das nannte, ins Heim zurückgeschickt worden. Nun hatte man sie in dem
Weitere Kostenlose Bücher