Kryson 03 - Zeit der Dämmerung
dass er die Schlüssel beinahe fallen ließ.
»Schließ die verdammten Ketten auf«, sagte die Gestalt mit Nachdruck, »… und beeile dich, wir müssen von hier verschwinden. Je eher, desto besser. Ich habe jedenfalls nicht vor, auf das Eintreffen der Eiskrieger zu warten.«
»Wer seid Ihr und Eure Gefährten auf den Mauern? Ihr wagt es tatsächlich, das Lager Harrak anzugreifen und Gefangene zu befreien?«
»Das erkläre ich dir, sobald wir aus dem Lager heraus sind. Meine Freunde jedoch…«, er deutete mit einer Armbewegung auf die kämpfenden Schattengestalten auf der Mauer, »… sind nichts weiter als imaginäre Krieger. Spiegelbilder meiner selbst. Ein simpler magischer Trick. Täuschend echt und effektvoll in seiner Wirkung. Sie sind von mir nicht zu unterscheiden und doch sind sie nicht wirklich. Wie Geister schwirren sie umher und imitieren im Kampf meine Bewegungen. Sie können nicht getroffen oder verletzt werden und stellen selbst keine echte Gefahr für ihren Gegner dar, es sei denn, er verletzt sich selbst. Aber sie stiften gehörig Verwirrung. Bis die Wachen die Täuschung bemerken werden, der Zauber nachlässt und sie sich im Nichts auflösen, werden wir die Mauern von Harrak hinter uns gelassen haben, vorausgesetzt, du findest endlich den passenden Schlüssel und legst deine Ketten ab.«
Fieberhaft, mit fliegenden Fingern nach dem passenden Schlüssel suchend, versuchte Chromlion einen Schlüssel nach dem anderen. Erst der elfte Schlüssel passte. Als die Ketten zu Boden fielen und der Lordmaster die Eisenbänder von Hals, Handgelenken und Fußknöcheln streifte, fiel eine schwere Last von ihm. Obwohl er sich noch immer im Inneren des Lagers befand, fühlte er sich befreit. Er sah eine rot schimmernde Blutaxt auf sich zufliegen und packte diese in einer geschickten Bewegung am Schaft aus der Luft.
»Deine Reaktion ist tadellos! Ich fürchtete schon, die Gefangenschaft hätte deine Fähigkeiten beeinträchtigt. Die Waffe habe ich dir aus dem Eispalast mitgebracht«, sagte der in Schwarz gehüllte Befreier. »Ich glaube, sie gehört dir. Nun zeig, was du kannst, Bewahrer, und lass uns gehen.«
Der Bewahrer bedankte sich und stürzte sich mit der Axt auf einen herannahenden Schneetiger. Die kreischende Axt hinterließ eine breite blutige Spur im schneeweißen Fell des Raubtiers, bevor dieses seinen letzten Atemzug tat.
»He …« Die Stimme gehörte Jakkard. »… und was wird aus mir und den anderen Gefangenen? Du kannst mich nicht einfach in Ketten zurücklassen. Ich habe dir das Leben gerettet.«
»Ich hatte nicht die Absicht, den gesamten Abschaum des ewigen Eises freizulassen«, bemerkte die dunkle Schattengestalt schnippisch.
»Wer hat dich gefragt, Schattenmann?«, konterte Jakkard. »Also halte dein schäbiges Schandmaul, wenn ich mit meinem Liebsten rede. Hetze ich die Mithäftlinge auf dich und Chromlion, werdet ihr das Lager nicht lebend verlassen. Das schwöre ich bei allem, was mir heilig und teuer ist.«
»Da dürfte es wenig von Wert geben, nicht wahr?«, erwiderte die Gestalt lächelnd, während sie sich erneut zum Gehen wandte.
»Wartet!«, rief Chromlion seinem Befreier hinterher, der sich ungeduldig umdrehte und den Bewahrer kritisch betrachtete. »Ich bin hier noch nicht fertig.«
»Na endlich«, freute sich Jakkard die Hände reibend, »du hast begriffen, wer dir den Aufenthalt in Harrak Nacht für Nacht versüßt hat und wem du dein Leben verdankst.«
»Genau!«, antwortete Chromlion und verzog sein Gesicht zu einer hässlichen Grimasse.
Mit einem Axthieb spaltete er Jakkard den Schädel und folgte der dunklen Gestalt sogleich am Seil über die Mauer.
»Ich bin beeindruckt, wie gekonnt du deine Dankbarkeit den Lebensrettern gegenüber ausdrückst. Hoffentlich wird es mir nicht eines Tages ähnlich ergehen«, meinte die Gestalt.
»Wer weiß? Ihr solltet Euch in Acht nehmen und mich nicht reizen«, antwortete Chromlion.
»Das werde ich mir merken«, sagte die Gestalt.
Als sie sich der Stelle näherten, an der sein Befreier Elischa an einen Pflock angebunden zurückgelassen hatte, wollte der Bewahrer seinen Augen nicht trauen. Die auf ihn und seinen Begleiter wartende Frau war ohne jeden Zweifel die Orna. Chromlion dankte den Kojos in Gedanken. Alles auf einmal war beinahe zu viel für ihn. Erst die Befreiung aus der Gefangenschaft und der wohl schlimmsten Zeit seines Lebens und nun das Aufeinandertreffen mit Elischa. Er hatte nach langer Zeit endlich eines seiner
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