Kuckucksmädchen
fällt mir ein, dass ich ihn noch etwas fragen wollte.
»Ilya?« Er dreht sich um und lächelt, als hätte er damit gerechnet, dass ich ihn noch mal zurückrufe.
»Ich wollte nur wissen ⦠Was machst du jetzt eigentlich?«
»Das Gleiche wie du. Hoffen, dass man mich wieder reinlässt.«
Auf der Rückfahrt sitze ich im GroÃraumabteil am Vierertisch. Einer der undankbarsten Plätze bei der Deutschen Bahn. Entweder man sieht sich mehreren Kleinkindern gegenüber, deren Eltern schon vor drei Wochen diesen Platz reserviert haben, damit ihre Kinder dort mit Wachsstiften auf übertrieben groÃe DIN-A3-Papiere malen und Bananen zerdrücken können. Oder die Plätze werden von mittelmäÃig attraktiven Männern in billigen Anzügen besetzt, die noch vor Verlassen des Startbahnhofs ihre Laptops aufklappen. Glück im Unglück hat man, wenn sich diese Männer einem gegenübersetzen und man den Rest der Fahrt lediglich die Rückseite eines überdimensionalen aufgeklappten Computers vor der Nase hat. Pech hat man, wenn sie sich direkt neben einen setzen und dadurch zwingen, auf den Bildschirmschoner zu starren und Zeuge zu werden, wie der mittelmäÃig attraktive Mann im letzten Sommerurlaub mit seiner Verlobten vor einer Meeresfrüchteplatte posiert hat.
Heute habe ich Glück. Der Zug ist fast leer. Ich bin allein. Allerdings nicht lange.
âSo, sagt das Herz plötzlich und unerwartet. Das war doch ein schöner kleiner Egobooster.
âMeine Güte, da bist du ja. Ich dachte schon, ich hätte dich verloren.
âAn Ilya?
âKleiner Scherz. Aber hätte passieren können, oder? Wäre ja nicht das erste Mal gewesen. Nein, du warst so still die letzten Tage.
âIch würde eher meinen, du warst zu beschäftigt, um auf mich zu hören.
âGut beobachtet, Baby. Was wolltest du mir denn sagen?
âIch glaube, wir gehören nicht in fremde Nester.
âWieso das denn jetzt? Wir waren doch gerade so gut dabei.
âWenn du mich fragst, sind wir einzig und allein dabei, Jonathan zu verlieren. Und das bisschen SpaÃ, das wir jetzt hatten, kommt niemals gegen das an, was er uns bieten kann. Max, Ilya, Clemens â das sind keine Optionen, das ist die Vergangenheit.
âDie Vergangenheit ist auch nicht mehr das, was sie mal war â¦
âWeil du sie nicht loslassen kannst, Mädchen. Dauernd denkst du daran, was früher war, tastest die Gegenwart nach alten Gefühlen ab. Und dann wunderst du dich darüber, dass irgendwann der Glanz ab ist. Lass doch mal die Finger von der Vergangenheit! Und vor allem: Lass uns endlich nach Hause fahren â¦
âUnd wo ist das, zu Hause?
âBei Jonathan.
âSelbst wenn du recht hättest und Jonathan wirklich die einzige Option wäre: Ich kann mich einfach nicht für immer entscheiden. Und auÃerdem bin ich mir nicht ganz sicher, ob der uns noch reinlässt.
âAber wir wollen doch zu ihm, wir wollen doch nach Hause?
âJa. Ich glaube, wir wollen nach Hause.
âGut. Dann müssen wir es versuchen.
âIch habe Angst, mein Herz.
âIch weiÃ. Aber ich bin bei dir.
5
» Wer nicht mehr liebt und nicht mehr irrt,
der lasse sich begraben. «
Johann Wolfgang von Goethe
Die meisten Touristen in Hamburg sehen nur die klebrigen Seiten vom Kiez. Sie kommen, wenn es Abend wird, steigen an der U-Bahn-Haltestelle St. Pauli aus, laufen in Horden über die Reeperbahn, biegen an der Davidwache links ab Richtung Hafen und gehen dann hoch bis zur berühmten HerbertstraÃe, in der angeblich die schönsten Nutten der Stadt hinter Schaufenstern ihre Körper zeigen. An dieser StraÃe müssen sich die Frauen von ihren Männern trennen, die Nutten wollen keine Frauen in der HerbertstraÃe.
Oft wird eine Weile diskutiert, aber irgendwann dürfen die meisten Männer durch das rote Tor verschwinden. Die Frauen laufen schnell und hektisch die ParallelstraÃe entlang und nehmen ihre Männer circa vier Minuten später am anderen Ende der HerbertstraÃe wieder in Empfang. Nur selten dauert es länger. Es werden ein paar schlechte, aber erleichterte Scherze gemacht, dann laufen sie in Richtung Hans-Albers-Platz, wo sie eine schmutzige Pizza zum Mitnehmen und eine Flasche Astra für einhundert Euro angedreht bekommen, bevor sie wieder in ihr sicheres Hotel fahren.
Was sie nicht erleben werden, ist
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