Kuckucksmädchen
die dreiÃig Jahre lang und Abertausende Male diesen Ton gehört hatte, sagte: »Ah, das ist dein Vater, er ist schlecht gelaunt« und ging zur Tür, um ihm zu öffnen. Sie muss eine Art akustische Sensorik für diese Klingel entwickelt haben, mit der sie hören konnte, ob ein Kinderfinger eine Millisekunde länger auf dem Kopf verweilte, mehr in der Mitte oder mehr von der Seite drückte oder ein winziges bisschen kräftiger oder schwächer. Ich weià es nicht. Vielleicht werde ich es wissen, wenn in zehn Jahren meine eigenen Kinder hier klingeln sollten.
Ich habe zu Hause ein neues Schild gemalt, darauf stehen Jonathans und mein Name, ganz nah beieinander. Ich weià nicht, ob das hilft. Ich weià nicht, ob ich mich lächerlich mache, ob schon alles zu spät ist. Aber ich mache es einfach.
Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal an einem Samstagabend in St. Pauli war. Kiez ist Krieg am Wochenende. Und zwar die Art von Krieg, dem man als Ãberachtundzwanzigjährige liierte Hamburgerin normalerweise aus dem Weg zu gehen versucht.
Aber heute lässt sich der Kiez nicht vermeiden, ich will zu Jonathan, ich will ihm endlich ins Gesicht sagen, dass es nur die Angst war, dass sie jetzt weg ist, dass wir loslegen können. Und dass ich schon losgelegt habe. Deswegen stürze ich mich für ihn in diese samstagabendliche Hölle, in der einem aus allen Ecken die Endzeitstimmung entgegengrölt, -singt und -schreit.
Wenn ich es dann zu seinem Haus geschafft, meine Sätze gesagt und mich entschuldigt habe, können wir von seinem Balkon aus dem verzweifelten Treiben in den StraÃen zusehen und uns freuen, dass wir dieses Spiel nicht mehr mitspielen müssen.
â Nicht wahr, mein Herz?
âJa, lacht das Herz zurück. Die Zeiten sind dann zum Glück vorbei.
Das Herz und ich, wir verstehen uns prima, seit die Angst weg ist.
Ich fahre nicht bis zur S-Bahn-Station Reeperbahn, sondern steige an den Landungsbrücken aus, um am Hafen entlangzulaufen. Hier ist es am späten Abend nicht mehr ganz so voll, das Partyvolk zieht es um diese Zeit schon vom Wasser weg in die Bars.
Als ich gerade am Goldenen Pudel die Treppe hochsteigen will, sehe ich auf einer Bierbank vor dem Club einen Freund von Jonathan sitzen. Kein guter Freund, eher ein Partyfreund. Einer, den Jonathan in den letzten Jahren aus den Augen verloren hat, weil er sich immer öfter dafür entschieden hat, das Wochenende mit mir kuschelnd auf der Couch zu verbringen, anstatt mit diesem Freund betrunken durch die Nacht zu stolpern. Einer, über dessen Verlust ich nicht wirklich traurig war. Dessen Namen ich nicht einmal mehr weiÃ.
Ich will gerade weitergehen, da steht der namenlose Freund auf, und ich sehe, wer neben ihm sitzt. Jonathan. Er schaut kurz in meine Richtung, aber im Halbdunkel der bunten Lichterketten kann ich nicht erkennen, ob er mich gesehen hat. Ich winke und komme näher, aber in dem Moment steht auch Jonathan auf, um seinem Freund in den Club zu folgen. Er hat die Türklinke schon in der Hand.
»Jonathan«, rufe ich, und er dreht sich um und schaut mich an. Sein Gesicht bleibt leer und ausdruckslos. So ausdruckslos, als wäre ich eine Fremde, die ihn gerade nach der Uhrzeit gefragt hat. So ausdruckslos, dass es mir Angst macht. Am liebsten würde ich jetzt rufen: »Jonathan! Ich bin es, Wanda!« Aber das wäre natürlich lächerlich. Und so bleibe ich etwas ratlos auf halber Treppe stehen. Jonathan hält noch immer die Tür auf. Drinnen im Club setzt ein dumpfer Beat ein.
»Ich wollte gerade zu dir«, rufe ich unsicher zu ihm rüber.
»Aha.«
Er sieht blass aus. Obwohl es noch warm ist, trägt er seinen Lieblingsschal. Den schwarzen mit den kleinen Streifen. Den Schal, den ich schon so oft aus Versehen geküsst habe, wenn das mit dem Küssen schnell gehen musste und wenig zielgerichtet war.
»Jonathan. Ich wollte dir was sagen.«
»Hm.« Er schaut auf die Uhr, dann wieder zu mir, jetzt liegt tatsächlich so etwas wie Ungeduld in seinem Blick.
»Aber jetzt bist du ja hier, also â¦Â«
Er hätte so viele Möglichkeiten in diesem Moment. Er könnte mich auf einen Wein einladen, sich hier drauÃen mit mir auf die Bierbänke setzen und anhören, was ich ihm zu sagen habe. Er könnte endlich die blöde Tür loslassen und einfach zu mir kommen und mich in die Arme nehmen. Er
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