Küstengold: Kriminalroman (German Edition)
Familiensitz, vermutete sie. Gestern Abend war nur wenig Betrieb,
und heute wirkte das Anwesen wie ausgestorben.
Sie hatte
gut geschlafen, und den ganzen Vormittag über hatte sie sich gepflegt. Jetzt am
Nachmittag öffnete sie weit die Balkontüren, um frische Sommerluft in ihr Zimmer
strömen zu lassen. Der Möhnesee erstreckte sich in voller Länge vor ihrem Balkon,
umrahmt von sanft ansteigenden Hügeln. Jelena genoss die Aussicht.
Weil eine
Regenfront aufzog, schimmerte die Nachmittagssonne nur noch blass über den See.
Auf der rechten Seite bemerkte sie jetzt eine beeindruckende beleuchtete Staumauer
mit zwei gewaltigen Türmen, deren Dächer wie überdimensionierte Stahlhelme wirkten.
Dieses Relikt
aus dem Krieg interessierte Jelena aber nicht. Ihre Blicke schweiften auf die Freifläche
unter ihr, die von den Nebengebäuden und Büschen begrenzt war. Im Glaspavillon entdeckte
sie die von Vladimir angekündigte Tagungsgesellschaft. Erschrocken trat sie einen
Schritt zurück, um anschließend über das Geländer nach unten zu spähen.
Sie konnte
insgesamt fünf Männer ausmachen. Vier von ihnen trugen dunkelblaue Anzüge und schienen
ziemlich kräftig zu sein. Sie spürte aus der Entfernung, dass es Russen sein mussten.
Das würden Vladimirs Auftraggeber sein.
Ihnen gegenüber
saß ein kleiner Mann mit weißgrauem Haar. Das musste Direktor Bergfeld sein. Einen
Anflug von Lust verspürte sie nicht bei seinem Anblick. Er wirkte wie ein gelangweilter
eitler Pfau. Sie zwang sich, an ihren Nerzmantel zu denken.
Jelena durfte den Moment, an dem
das Treffen im Glaspavillon zu Ende war, nicht verpassen. Schnell zog sie ihre schwarzen
halterlosen Nahtstrümpfe an und schlüpfte in ihr neues Kleid. Dann setzte sie sich
an das Fenster und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Endlich kam Bewegung
in die Versammlung im Gartenhaus. Ihre Stunde war gekommen. Sicherlich würden die
Männer vor dem Abendessen noch einen Drink an der Bar nehmen.
Sie schlüpfte
in die hochhackigen Pumps und eilte hinunter an die kleine Bar hinter der Rezeption.
Sie ließ sich seitlich vom Tresen auf einem Barhocker nieder, damit man ihre makellosen
Beine gebührend bewundern konnte.
Dann fielen
die Männer schon lachend in den Raum ein. Offensichtlich hatte das Gespräch noch
einen guten Verlauf genommen. Die Russen gesellten sich wie selbstverständlich zu
ihr an die Bar, und den Direktor bugsierten sie geschickt an Jelenas Seite. Er wirkte
etwas unbeholfen.
Unerfahren
war sie nicht im Anknüpfen von Kontakten, das war ihr Job. Sie zog eine Zigarette
aus der Schachtel und blickte hilflos um sich. Der Direktor reagierte sofort und
durchsuchte planlos seine Taschen, bis er ein kleines silbernes Feuerzeug hervorbrachte.
Mit ungelenken Bewegungen gelang es ihm, eine kleine bläuliche Flamme zum Leuchten
zu bringen. Als Jelena ihre Zigarette langsam in das Licht eintauchte, bemerkte
sie aus den Augenwinkeln, dass ihr einer der Russen zublinzelte. Richtig, es waren
ihre Auftraggeber.
Dann kam
auch schon ein Tablett mit sechs Wodkas. Selbstverständlich sollte sie mittrinken.
Gut, das würde die Angelegenheit auch für sie erträglicher gestalten.
Wie in Russland üblich folgte nun
Runde auf Runde. Selbst der Direktor taute langsam auf. Einer der Russen reichte
ein kleines Speichermodul über den Bartresen, und wenig später wurde im Zweivierteltakt
Kasatschok getanzt. Paarweise zog es die vier Russen auf die Tanzfläche. Sie kreuzten
die Arme vor der Brust, schlugen knallend ihre Absätze auf den Tanzboden und gingen
dann in den Wechselsprung zwischen gestrecktem und angewinkeltem Bein aus der Hocke.
Jelena nutzte
die Gelegenheit und zog den zögerlichen Direktor in die Mitte der Tanzfläche. Zuerst
wirkte alles noch sehr gesittet, aber mit der Zeit wichen die Improvisationen immer
gewagteren artistischen Einlagen. Auch der kleine Direktor stellte sein Können unter
Beweis, indem er unter großem Beifall unablässig von Hock- zu Grätschsprüngen wechselte.
Ein überforderter
Kellner unternahm zwei vergebliche Versuche, zum Abendbuffet zu bitten. Mit einem
Geldschein wurde er davongebeten. Erst als sie völlig erschöpft waren, ließen sich
die Russen wieder an der Bar nieder. Sie prosteten dem Direktor und ihr zu: »Sa
vas, sa nas, sa gaz!«
Jelena hatte
lange Zeit Russisch in der Schule gehabt und übersetzte. »Auf euch, auf uns, auf
das Gas!« Direktor Bergfeld nickte, und sie kippten den Wodka hinunter. Die Russen
ließen
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