Kunst hassen
Schlange, lösen ihr Ticket und gehen direkt zur Garderobe, bevor sie sich in die Ausstellungshalle bewegen. Das Blatt bietet ausreichend Raum für ein Feedback, das einen ganzen Aufsatz zuließe. Die Besucher, die den Zettel ausgefüllt haben, beschränken sich allerdings auf knappe Kommentare: »In Raum B fehlen Sitzbänke.« »Warum gibt es keine Kombitickets?« »Die Aufsicht war sehr unhöflich.« »Die Texte der Ausstellung sind zu kurz.« »Das Personal hat mich falsch beraten.« Hier und da werden inhaltliche Fehler angemahnt: »Fotograf XY wurde 1945 geboren, nicht 1954 .« Einer schreibt: »Für 9 Euro Eintrittsgeld kaufe ich mir lieber einen Besen.«Im letzten Jahr besuchten rund 150.000 Menschen die Deichtorhallen. Pro Woche werden ein bis zwei Blätter ausgefüllt, das macht ungefähr 100 im Jahr. Eine Rücklaufquote von 0 , 067 Prozent. Einige Blätter sind direkt an den Direktor oder die Kuratoren gerichtet und werden entsprechend weitergeleitet (oft mit »Lieben Grüßen«). Man kann also davon ausgehen, dass die guten Bekannten des Hauses gerne mal ein Kärtchen ausfüllen. Dirk Luckow, Anfang fünfzig, Kunsthistoriker, ist der Direktor der Hamburger Deichtorhallen. Er blinzelt, als er sich sein Anzugrevers geraderückt und die Hand ausstreckt: »Klären Sie mich noch einmal auf. Worüber sprechen wir heute?« Luckow leitet das Haus seit dem Jahr 2009 . Er ist verantwortlich für das, was die Hamburger an zeitgenössischer Kunst wahrnehmen. Als er noch die Kunsthalle in Kiel leitete, konzipierte er die Ausstellung »Ballermann« und ließ Jürgen Drews zur Eröffnung nicht nur singen, sondern auch seine eigene Sammlung präsentieren. Seine letzte Kieler Ausstellung thematisierte den Cockerspaniel in der Kunst: »Cocker Spaniel and Other Tools for International Understanding«. Jetzt will er in Hamburg »die Hallen mit Lebensfülle bespielen und die reale Präsenz und Ereignishaftigkeit von Kunst erlebbar machen«.
Entspannte Leistungsbereitschaft
Äußerlich passt er in das Bild eines Managers: groß, schlank, ein bisschen jungenhaft, immer in Hemd und Anzug, nie mit Krawatte. Alles an ihm sieht nach entspannter Leistungsbereitschaft aus. Er hat eine Stimme, die während des ganzen Gesprächs freundlich und einladend bleibt. Selten weiß er auf eine Frage nicht soforteine Antwort. Wenn, dann zieht er kurz die Augenbrauen zusammen und nimmt neuen Anlauf. Warum sollte er auch abweisend sein. Dirk Luckow leitet ein Ausstellungshaus, das gut besucht ist, seine Ausstellungen werden ausführlich in den Medien besprochen, und er kann immer wieder bekannte Künstler für das Haus begeistern. Die aktuelle Ausstellung hat Luckow selbst kuratiert: eine Retrospektive des dänischen Künstlers Poul Gernes, der seine produktive Zeit zwischen den 60 er und 80 er Jahren hatte. Luckow weiß nicht, wie die Fragebögen entstanden sind, die am Eingangsbereich zu einem Kommentar auffordern. Sie seien vor seiner Zeit eingeführt worden und dienten als Ersatz für eine punktuell durchgeführte Befragung. Eine belastbare Erhebung zur Publikumszufriedenheit stehe noch aus, würde aber das Programm der Deichtorhallen nicht unmittelbar beeinflussen können.
Aber: Es hilft bei der Einschätzung, was Besucher denken und empfinden, die in seinem Haus für zeitgenössische Kunst meist »auf etwas ganz Neues« treffen. Er sagt das wirklich so. Die zeitgenössische Kunst sei nun mal nicht so bekannt wie die Kunst des Expressionismus oder die Kunst des 19 . Jahrhunderts, wo die verschiedenen Parameter bekannt sind, mit denen der Besucher sein eigenes Bild der Kunst bestätigen oder erweitern kann. Bei Ausstellungen mit expressionistischer Kunst oder Kunst älterer Epochen begegnen die Besucher Stilen und Bildmotiven, so Luckow, die ihnen bereits vertraut sind. Bei der Gegenwartskunst hingegen hängen Zugang und Zuspruch stark vom einzelnen Werk oder vom Thema der Ausstellung ab. Für Luckow ist auch ein Däne wie Gernes, der seit 15 Jahren unter der Erde liegt und heute 85 Jahre alt wäre, etwas »ganz Neues«, auf das er seine Besucher treffen lässt.
Das Publikum ist doof
Vielleicht ist es eine Voraussetzung für den Erfolg des modernen Kunstbetriebs, das Publikum für so doof zu halten, dass es danach lechzt, aufgeklärt zu werden. Dahinter steht nicht nur eine romantisierte Vorstellung des Kunstbegriffs, der auf ein bildungsbürgerliches Ideal baut; es ist auch eine subtile Hierarchie, die bestimmt, wer was über welche
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