Kurier
sei ganz
cool, Junge. Wir sind jetzt auf Straße Nummer hundertzweiundneunzig. Nächste
Stadt heißt Waren. Nix Autobahn, viel zu riskant jetzt. Hast du die Straße?
Gut. Wir brauchen Route und Treffpunkt mit deinen Leuten, klar? Also langsam,
Grau muss es mitkriegen, er fährt. Also Waren, Neustrelitz, Fürstenberg,
Gransee, Oranienburg. – Wo? – Also gut, Sachsenhausen rechts. Wir kommen,
also, ich mache Schluss.«
»Milan«, gestand Grau zögernd, »ich glaube, ich muss mal
eine Pause machen.« Er fuhr zehn Meter in einen Wiesenweg hinein und hielt. Er
stieg aus und stand da mit gebeugtem Kopf und gesenkten Schultern. Dann machte
er noch ein paar Schritte und übergab sich.
»Es war ein bisschen viel.« Milan stand neben ihm und hielt
ihn an den Schultern fest. »Mach Pause, ich fahre weiter.«
»Du hast keine Papiere«, sagte Grau spuckend.
»Scheiß drauf«, antwortete Milan sanft. »Wer ist denn
hier schon unterwegs, außer den Kühen?«
»Der Teufel«, sagte Grau hustend, »der Teufel ist ein
Eichhörnchen.«
Milan lachte und schlug ihm auf die Schulter. Dann wandte
er sich ab und sagte erstickt: »O nein!«
Die Frau war schon zehn oder fünfzehn Meter weg, und sie
war sehr schnell. Sie rannte in die Wiese hinein, glitt förmlich über das Gras.
Milan spurtete und rannte nicht hinter ihr her, sondern parallel zu ihr. Als
sie eine lange Kurve lief, war er im Vorteil und warf sich vorwärts. Sie fielen
beide und es gab ein groteskes Durcheinander von Armen und Beinen, ehe Milan
sich aufrappelte und die Frau liegen blieb.
»Meike«, sagte Grau hastig, »bleib sitzen, bleib um
Gottes willen sitzen.«
Aber sie hörte ihn nicht. Sie stieg aus dem Wagen, schlenderte
so vor sich hin und summte irgendetwas. Dann ging sie zurück zum Auto, setzte
sich auf den Beifahrersitz und klappte die Sonnenblende herunter. Sie besah
sich im Spiegel und versuchte, die Dreckschlieren von ihrem Gesicht zu wischen.
»Das kannst du immer noch machen«, redete Grau auf sie
ein. »Du musst erst einmal nach Hause und zur Ruhe kommen. War … war es
schlimm?«
»Es gab nichts zu essen«, sagte sie seltsam heiter. »Sie
hatten einfach nichts zu essen im Haus. Sag Sundern, ich komme später.«
»Na klar sage ich es ihm«, versicherte ihr Grau. »Komm,
setz dich in den Wagen, setz dich nach hinten, wir müssen weiter.«
Sie ließ ihr Gesicht schmutzig, wie es war, stieg aus,
baute sich vor Grau auf und fuhr ihm zärtlich mit der rechten Hand durchs
Gesicht. »Es wird schon alles ins rechte Lot kommen«, sagte sie.
»Das denke ich auch«, sagte er, wusste aber genau, dass
sie gar nicht ihn meinte.
Sie ließ sich folgsam auf die Rückbank fallen und faltete
die Hände im Schoß wie ein Mädchen vor hundert Jahren auf einer Kutschfahrt.
»Ich sollte dir ein Pflaster auf die Wunde tun«, sagte
Grau und deutete auf ihr Knie.
»Oh«, sagte sie und lächelte. »Meike ist gefallen.«
Etwas Speichel lief ihr über das Kinn und tropfte auf die
zerrissene Bluse.
Milan kam zurück und trug die fremde Frau in seinen
Armen. Er legte sie auf die nasse Wiese. Als Grau empört etwas sagen wollte,
grinste er: »So wird sie schnell wieder wach. Wir müssen weiter, nicht wahr?
Kotzt du noch?«
»Es geht schon«, sagte Grau. »Meike ist in einem schlechten
Zustand. Sie ist weggetreten, sie kriegt nichts mit. Gib ihr deinen Pulli. Lass
uns fahren.«
Die Frau wurde wach und stand auf.
»Wer sind Sie?«, fragte Grau.
Sie antwortete nicht, sie strich sich durch die roten
Haare und betrachtete Meike.
»Sag, wer du bist«, forderte Milan. »Frau Namenlos, heh?«
»Namenlos«, sagte sie etwas rau. »Ich will zu Sundern,
ich sage nichts.«
»Gut«, nickte Grau. »Wir wollen auch zu Sundern. Und
laufen Sie nicht noch mal weg. Wir könnten sonst etwas ungemütlich werden.«
Die Frau nickte und setzte sich neben Meike. Sie hatte einen
dunklen herben Teint, der langsam trocknende Schlamm wirkte an ihr wie eine dekorative
Kriegsbemalung. Sie schien keine Furcht zu haben, zumindest wirkte sie ziemlich
gelassen.
Plötzlich wurde Meike sehr unruhig. Sie rieb sich verbissen
die Innenseite des rechten Unterarms, ihre Augen waren voller Angst.
»Halt an!«, befahl Milan. »Irgendetwas ist mit ihr.«
Grau bremste, Milan stieg aus und machte den hinteren
Wagenschlag auf. »Komm, lass mal sehen. He, sie hat Einstiche. Zwei.«
»War es Heroin, Meike?«, fragte Grau verkrampft und laut.
Er sah sich nicht einmal
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