Kurschatten: Ein Sylt-Krimi
Dorfes seine Schäfchen zu einer Prozession um die Kirche trieb, fühlte prompt die gleiche Feierlichkeit in sich aufsteigen, die sie ergriff, wenn der Pfarrer das Kreuz vor der Gemeinde hertrug. Hier waren es zwar Plakate mit mehr oder minder aggressiven Forderungen, aber die Feierlichkeit schien ihr auch hier angebracht. Sie bewegte sich einen Schritt hinter ihren Enkeln und deren großem Plakat den Terp Wai hinab auf Braderup zu und genoss die Aufmerksamkeit, die den Demonstranten entgegengebracht wurde. Jedes Mal, wenn sich in den Einfamilienhäusern am linken Straßenrand eine Tür öffnete, rief sie lauter als alle anderen »Fi-ni-to!« und schüttelte ihre rechte Faust. Dabei vergaß sie sogar das Telefonat, das sie am Morgen mit Niccolò geführt hatte, um ihm das Bistro im neuen Gesundheitshaus auszureden. Er würde es sowieso nicht bekommen, weil es Sylter Bewerber gab, denen man den Vorzug geben würde. Damit, so hatte sie gehofft, musste sich Niccolò zufriedengeben, wenn auch natürlich erst, nachdem er die Ungerechtigkeit der Welt beklagt und sämtlichen Entscheidungsträgern die Pest an den Hals gewünscht hatte.
Doch ihr Neffe gehörte leider zu der Sorte Mensch, die in der Familie Capella häufig vertreten war: Widerstand reizte ihn nur und steigerte seine Entschlossenheit, ihn zu überwinden. Als sie das Telefonat beendet hatte, war Mamma Carlotta jedenfalls keinen Schritt weitergekommen. Niccolò war damit herausgerückt, dass er in Assisi und Umgebung keine Chance auf einen beruflichen Neuanfang bekam, weil er den Geliebten seiner Frau dort verunglimpft hatte, ohne zu wissen, um welche einflussreiche Persönlichkeit es sich handelte. Außerdem war er über das Dach des Nachbarhauses gestiegen, als er Susanna im Bett seines Rivalen vermutete, hatte sich an die Regenrinne gehängt und von dort ins Schlafzimmer gesehen. Susanna hatte das nicht weiter gewundert, sie kannte die akrobatischen Übungen ihres Mannes zur Genüge, aber ihr Geliebter musste anschließend mit einem Herzanfall in die Klinik gefahren werden.
Und nun drehte dieser Mann den Spieß um und sorgte dafür, dass Niccolò überall abgewiesen wurde. Carlottas Neffe behauptete sogar, in ganz Italien gäbe es niemanden mehr, der bereit war, ihm eine Chance zu geben. Er nage am Hungertuch, müsse zusehen, wie seine Frau in einem teuren Auto an ihm vorbeifuhr, müsse sich von seinen Kindern Versager nennen lassen, würde von seinen Nachbarn nicht mehr gegrüßt, und überhaupt sei sein Leben derart verkorkst, dass er sich eigentlich nur noch aufknüpfen könne.
Natürlich wusste Mamma Carlotta, dass Niccolò mächtig übertrieb, aber die Furcht, an der Verzweiflung eines Angehörigen schuld zu sein, brachte sie schließlich doch dazu, auf Niccolòs Bitte einzugehen. Es sei ihre Pflicht, fügte er an, der Besitzerin von Matteuer-Immobilien so lange zuzusetzen, bis diese endlich einsah, dass ein italienisches Restaurant genau das war, was in Braderup fehlte, und dass Niccolò Capella dafür genau der richtige Wirt war.
Mamma Carlottas nächstes »Finito« kam nicht halb so enthusiastisch heraus wie alle anderen vorher. Wenn Niccolò wüsste, dass Corinna Matteuer längst bereit war, ihm das Bistro zu überlassen! Wenn er ahnte, dass Mamma Carlotta ihren eigenen Ruf in der Bürgerinitiative und den Respekt ihrer Enkelkinder über das Wohlergehen ihres Neffen stellte, würde Niccolò vermutlich sein letztes Geld in eine Reise nach Rom investieren, um sich dort effektvoll von der Kuppel des Petersdoms zu stürzen. Natürlich erst, nachdem er mit irgendeinem akrobatischen Kunststück alle Gläubigen, die sich auf dem Platz vor dem Dom aufhielten, auf sich aufmerksam gemacht hatte.
E in uniformierter Polizeibeamter empfing die Demonstranten am Ortseingangsschild von Braderup und sorgte dafür, dass der Autoverkehr zum Stehen kam, als es für die Gruppe links abging. Die Demonstranten marschierten an den letzten Häusern von Braderup vorbei und bogen dann in die schnurgerade Straße ein, die Richtung List führte. Links öffneten sich die weiten Flächen des Golfplatzes, auf der anderen Straßenseite lagen weite Wiesenflächen, die bis zum Watt reichten. Sie waren es, die von Matteuer-Immobilien bebaut werden sollten. Nicht weit von den Grundstücksgrenzen der benachbarten Wohnbebauung war das provisorische Baubüro entstanden, auf das der Zug der Demonstranten zumarschierte. Dort schien alles ruhig zu sein. Die Tür war geschlossen, hinter
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