Kurschatten: Ein Sylt-Krimi
wissen wir vielleicht mehr.«
Als Erik die Tür der Bahnhofshalle durchschritt, drehte er sich noch einmal um. Er wollte Wiebke heimlich zuwinken, ihr ein kleines Zeichen geben, dass er sie zwar behandelte, wie ein Polizeibeamter eine Journalistin normalerweise behandelt, aber nicht den schönen Moment vergessen hatte, der sie seitdem verband. Doch Wiebke war nicht mehr zu sehen.
M amma Carlotta beschloss, zum Friedhof zu gehen, um mit Lucia über ihre Probleme zu sprechen. Ein paar Minuten vor dem Grab ihrer Tochter hatten noch immer dafür gesorgt, dass sie klarer sah. Hoch aufgerichtet ging sie den Hochkamp entlang, darum bemüht, auszusehen wie eine unbeugsame Frau, die sich nicht von der schlechten Laune eines cholerischen Wirtes einschüchtern ließ. Als sie hinter sich die Zündung von Toves Lieferwagen vernahm, richtete sie sich noch ein wenig höher auf. Und als sie hörte, wie das Geräusch in sich zusammenfiel, konnte sie sich ein bisschen Schadenfreude nicht verkneifen. Schon bei ihrem letzten Besuch hatte Tove davon geredet, dass sein Wagen häufig nicht ansprang, dass er aber kein Geld habe, ihn endlich in die Werkstatt zu geben. Anscheinend fehlten ihm noch immer die Mittel. Und trotzdem redete er davon, das Bistro im Gesundheitshaus zu übernehmen? Von Niccolò wusste sie, dass die Pacht nicht von Pappe war und dass einige Tausend Euro zu zahlen waren, ehe überhaupt ein Vertrag aufgesetzt wurde. Toves Größenwahn war wirklich nicht mehr zu überbieten. Wer ihn und seine Imbissstube kannte, ahnte, dass das Bistro im Gesundheitshaus unter Toves Leitung bald vom Konkurs bedroht sein würde.
Sie bog in die Westerlandstraße ein und war schon an der Einmündung zum Süder Wung vorbei, als sie hinter sich Toves Lieferwagen hörte, der mal tuckerte, mal röhrte, dann wieder aufheulte und gleich darauf rasselte, als hätte sein letztes Stündlein geschlagen. Als sie auf der Höhe der Boutique Annanita angekommen war, hielt sie ihre Neugier nicht länger aus und drehte sich um. Der Wagen fauchte und spie dunkle Wolken, er bockte und sprang, und selbst auf die Entfernung war zu erkennen, dass Tove hinter dem Steuer fluchte und das Lenkrad mit den Fäusten traktierte.
In diesem Moment fuhr ein schwarzer Mercedes von der Hauptstraße in die Westerlandstraße und hielt direkt auf das stinkende und knatternde Ungetüm zu. Die hellblonde Fahrerin trat erschrocken auf die Bremse. Doch das half nichts. Der Lieferwagen sprang unkontrolliert auf sie zu, denn Tove bückte sich gerade, um durch irgendwelche Maßnahmen in der Höhe des Gaspedals sein Gefährt anzutreiben. Die Frau im Mercedes betätigte entsetzt die Hupe, doch die Kollision war unumgänglich.
Der Lieferwagen kam erst zum Stehen, als er sich in den schwarzen Mercedes verkeilt hatte, Toves Gesicht erschien erst wieder an der Windschutzscheibe, als sein Wagen notgedrungen zum Stehen gekommen war und kreischendes Metall ihn aufgeschreckt hatte. Mamma Carlotta starrte fassungslos auf die Bescherung, die Tove angerichtet hatte, und war derart bestürzt, dass sie ihn nicht mehr beschwichtigen und davon abhalten konnte, aus dem Wagen zu springen.
»Bist du zu dämlich zum Autofahren? Tussi am Steuer! Der drehe ich den Hals um!«
Dabei hätte Mamma Carlotta sich denken können, was nun geschehen würde! Es war nicht das erste Mal, dass sie miterleben musste, wie Tove Griess sich seine Wut vom Leibe schüttelte, schrie, prügelte und wütete. Um Schuld, Fehlverhalten, Gesetzeslage und Ersatzansprüche ging es ihm dabei nicht, sondern nur darum, seine Wut loszuwerden. Bestenfalls verging er sich dann an Gegenständen, im allerbesten Fall an solchen, die ihm selbst gehörten, schlimmstenfalls jedoch traf es einen Mitmenschen und im allerschlimmsten Fall sogar einen, der an dem Desaster völlig unschuldig war.
»Wenn ich dich jemals allein erwische, bringe ich dich um!«
Tove rannte auf den schwarzen Mercedes zu, riss die Fahrertür auf, schnappte nach der Fahrerin und versuchte, sie am Kragen aus dem Wagen zu zerren. Dass sie sich wehrte, so gut es ging, war nur allzu verständlich, aber sie war Tove kräftemäßig bei Weitem unterlegen. Als sich ein mutiger Passant zwischen Tove und die hellblonde Fahrerin warf, hatten beide bereits Blessuren davongetragen. Toves Gesicht war von Fingernägeln zerkratzt, sein Opfer hatte die kunstvolle Frisur eingebüßt, ihre Jacke einen Teil der Ärmelnaht und die Bluse mindestens zwei Knöpfe. Möglicherweise hatte diese
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