Kurt Ostbahn - Platzangst
die der Fuhrunternehmer aus Erzählungen als „die narrische Malerin“ kennt, weil welche junge Frau, die ihre sieben Sinne beisammen hat, wohnt schon freiwillig mutterseelenallein da heraußen in einem uralten Bauernhaus ohne Strom und Telefon und Fließwasser.
Genau hier an dieser Stelle, wo von der kaum frequentierten (und deshalb von der örtlichen Schneeräumung nicht unbedingt verwöhnten) Landstraße der Forstweg hinunter zu Iris Fabians Künstlerklause abbiegt, wird uns der gute Mann in drei Stunden wieder abholen. Oder besser, weil er sich angesichts der Witterungsverhältnisse nicht auf die Minute festlegen will: Er wird hupen, wenn er wieder da ist. Und bis dahin werden unsere Fremdenzimmer in der Frühstückspension seiner Schwägerin bacherlwarm sein, verspricht er. Dann wünscht er uns noch viel Glück und macht rasch kehrt in Richtung Zivilisation.
Es ist stockfinstere Nacht, und Brunner und ich stemmen uns gegen das eisige Toben des Schneesturms. Für eine fröh-liche Schlittenfahrt wären wir ausreichend ausgerüstet, diese Schneehölle aber erfordert mehr an Equipment als Schal und Pudelhaube bzw. Brunners russische Pelzkappe mit den ausklappbaren Ohrenschützern. Nur jetzt ist es zu spät. Jetzt bewahrt uns nur ein entschlossenes Vorrücken vor dem Kältetod. Brunner leuchtet uns mit seiner Taschenlampe den Weg, der als solcher nicht mehr zu erkennen ist. Vor uns führt eine Schneeverwehung, die von dichtem dunklen Tann gesäumt wird, talwärts zu dem rettenden Licht von Iris Fabians Behausung.
Bei Tageslicht, Sonnenschein und vernünftigen Bodenverhältnissen wäre der Forstweg in ein paar Minuten zu bewältigen. Heute stapfen, stolpern und straucheln Brunner und ich zirka eine halbe Stunde durch die Nacht, bis wir endlich und mit den Kräften ziemlich am Ende am Rand der kleinen Lichtung stehen, auf der sich – sicherlich nicht in diesem Jahrhundert – ein von Pioniergeist und (wahrscheinlich religiös motivierter) Selbstaufgabe durchdrungener Landwirt ein ebenerdiges Holzhaus und eine Scheune errichtet hat.
Aus der Luke im Dachgeschoß des Hauses kommt das Licht, das wir oben an der Straße vom Wagen aus gesehen haben und das uns auch in den dunkelsten Minuten unseres Abstiegs, wie einst der Stern von Bethlehem den drei Weisen aus dem Morgenland, den Weg gewiesen hat.
„Also das wär nix für mich. Weit und breit nur Gegend. Das macht mich ganz nervös“, gibt sich Brunner als überzeugter Stadtmensch zu erkennen.
Dann stapfen wir auf die Haustür zu, durch eine kniehohe Schneewächte, die davon zeugt, daß Iris Fabian ihr Haus nur ungern verläßt, und wenn, dann nicht um Schnee zu schaufeln.
Durch das Heulen des Windes ist das ferne Tuckern eines Stromaggregats zu hören, und leise Fetzen von Musik, die zwar nicht aus der Gegend kommt, sich aber perfekt in die schwermütige Kargheit der Landschaft einfügt. Bessie Smith, Ida Cox, Billie Holliday.
Als auf unser höfliches Klopfen niemand reagiert, kämpfe ich mich unter die Dachluke vor und versuche mein Glück mit einem aus voller Brust hinausgeschmetterten Hallo. Es bedarf mindestens eines halben Dutzends erfolgloser Versuche, bis sich endlich Brunner zu mir gesellt, und dann brüllen wir im Chor.
In der Dachluke taucht der Schattenriß eines Kopfes auf.
„Ist da jemand?“
Eine weibliche Stimme, die der Schneesturm packt und mit sich fortreißt in die schweigenden Wälder.
„Wir sind’s“, rufe ich hinauf, weil mir nix Besseres einfällt.
„Moment“, ruft die Stimme, und der Kopf verschwindet wieder.
Wir stapfen zurück zur Haustür und warten.
„Nicht vergessen, Herr Doktor: Wir wollen was wissen. Aber zu erzählen haben wir nur das Nötigste. Und noch was: Immer knapp an der Wahrheit bleiben, so lügt es sich am besten!“ nützt Brunner die Wartezeit, den alten Hasen heraushängen zu lassen. Dann klopft er mir auf die Schulter. Väterlich. Aufmunternd.
Iris Fabian paßt in die Landschaft wie ihre Musik.
Sie ist keine Schönheit im landläufigen Sinn, würde ich sagen, aber von einer herben Grazie, die einem nur die Stürme des Lebens bescheren können. Im Leben von Iris Fabian hat es nur selten Windstille gegeben. Das sieht man ihr an, wie man den ewig Wohlbehüteten ansieht, daß Schönheit auch eine verdammt langweilige Angelegenheit sein kann. Und man weiß auch gleich, warum Iris’ Kinderbuchheldin ein Igel ist. Ihr stehen die dunklen, kurz geschnittenen Haare in widerspenstigen Strähnen und Schippein
Weitere Kostenlose Bücher