Kuss im Morgenrot: Roman
selbst.
Und niemand wusste das besser als Leo. Als Architekt wusste er, dass manchen Gebäuden ein Charakter innewohnte, der weit mehr war als nur die Summe seiner Teile. Ramsay House war zerstört und wieder aufgebaut worden … aus einer vernachlässigten Hülle war ein blühendes glückliches Heim geworden, und das nur, weil sich eine ganze Familie die Mühe gemacht hatte. Es wäre ein Verbrechen, wenn die Hathaways nun von zwei Frauen vertrieben würden, die absolut nichts darein investiert hatten, und das alles nur durch einen juristischen Taschenspielertrick.
Leise fluchend fuhr sich Leo mit der Hand durchs Haar. »Ich werde mir die Ruinen des alten Gutshofs einmal anschauen«, sagte er. »Merripen, wie komme ich am schnellsten dorthin?«
»Ich bin mir nicht sicher«, gab Merripen zu. »Ich war selten so weit draußen.«
»Ich weiß den Weg«, bot sich Beatrix an. »Miss Marks und ich sind einmal hingeritten, um die Ruinen zu zeichnen. Der Ort ist sehr malerisch.«
»Würdest du noch einmal mit mir hinreiten?«, fragte Leo.
»Liebend gern«, antwortete sie.
Amelia runzelte die Stirn. »Warum willst du dir die Ruinen anschauen, Leo?«
Er schenkte ihr ein Lächeln, von dem er wusste, dass es sie ärgern würde. »Um die Vorhänge auszumessen, natürlich.«
Sechstes Kapitel
»Tut mir leid«, rief Beatrix, als sie in die Bibliothek kam, wo Leo schon auf sie wartete. »Ich kann dich doch nicht zur Ruine begleiten. Ich habe Lucky gerade untersucht, und es sieht so aus, als würde sie jeden Moment ihre Babys bekommen. Ich kann sie jetzt unmöglich alleine lassen.«
Leo stellte ein Buch ins Regal zurück und lächelte fragend. »Wer ist Lucky?«
»Ach so, du hast sie noch gar nicht kennengelernt. Sie ist eine dreibeinige Katze, die vorher dem Käser im Dorf gehört hat. Das arme Ding hat sich die Pfote in einer Rattenfalle eingeklemmt, und sie musste amputiert werden. Und da sie jetzt keine gute Mäusefängerin mehr ist, hat der Käser sie zu mir gebracht. Stell dir vor, sie hatte noch nicht einmal einen Namen!«
»Angesichts dessen, was ihr passiert ist, ist der Name ›Lucky‹ vielleicht ein bisschen unglücklich, findest du nicht?«
»Ich dachte, er könnte ihr vielleicht zu mehr Glück verhelfen.«
»Das wird er ganz bestimmt«, erwiderte Leo amüsiert. Die Leidenschaft, mit der Beatrix verletzte Tiere pflegte, hatte die anderen Familienmitglieder schon immer ein wenig besorgt gestimmt, aber sie waren mindestens genauso gerührt. Sie waren sich alle darin einig, dass Beatrix die unkonventionellste Hathaway war.
Beatrix war auf den Londoner Gesellschaften sehr begehrt. Sie war ein hübsches Mädchen, wenn nicht sogar eine klassische Schönheit mit ihren blauen Augen, dem dunklen Haar und der großen, schlanken Figur. Die Gentlemen fühlten sich von ihrer Spritzigkeit und ihrem Charme angezogen, unwissend, dass sie Igeln, Feldmäusen und ungezogenen Spaniels dasselbe geduldige Interesse entgegenbrachte. Spätestens, wenn es zur aktiven Brautwerbung kam, verließen die Männer zögernd Beatrix‘ bezaubernde Gesellschaft, um sich den konventionelleren Fräulein zuzuwenden. Mit jeder erfolglosen Saison verringerten sich ihre Chancen auf eine Heirat.
Beatrix schien das nichts auszumachen. Mit ihren neunzehn – fast zwanzig – Jahren hatte sie die Liebe noch vor sich. Unter den Hathaways war man einstimmig der Meinung, dass es nur wenige Männer geben würde, die sie verstehen und mit ihr umgehen konnten. Sie war eine Naturgewalt, die sich von Konventionen nicht aufhalten ließ.
»Geh nur und kümmere dich um Lucky«, sagte Leo sanft. »Ich glaube nicht, dass ich Schwierigkeiten haben werde, die Ruine alleine zu finden.«
»Oh, du reitest nicht alleine«, teilte sie ihm mit. »Ich habe Miss Marks für dich organisiert. Sie wird dich begleiten.«
»Wirklich? Und sie war einverstanden?«
Bevor Beatrix antworten konnte, betrat Catherine die Bibliothek. Ihre dünne Gestalt steckte in Reitkleidung, das Haar hatte sie zu einem festen geflochtenen Knoten zusammengebunden. Unter ihrem Arm klemmte ein Skizzenbuch. Sie stutzte, als sie Leo erblickte. Er trug einen Herrenreitmantel, enganliegende Reithosen und ein Paar ausgetretene Stiefel.
Ihr wachsamer Blick wanderte zu Beatrix. »Warum hast du deine Reitkleidung nicht an, Liebes?«
»Tut mir wirklich leid, Miss Marks«, antwortete Beatrix entschuldigend, »aber ich kann leider doch nicht mitkommen. Lucky braucht mich. Aber das macht ja nichts – Sie
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