Kuss im Morgenrot: Roman
zu.«
Leo warf ihr einen spöttischen Blick zu. »Was wissen Sie denn über Männer?«
Ihr Blick war ernst, die hellgrauen Iriden wirkten meergrün. »Ich weiß, dass ich ihnen nicht trauen kann.«
»Ich könnte das Gleiche über Frauen sagen.« Er legte seinen Mantel ab, warf ihn über die Mauer und ging zu dem Hügel im Zentrum der Ruine. Während er das Umland betrachtete, zwang sich ihm die Frage auf, ob einst Thomas of Blackmere an derselben Stelle gestanden und auf seinen Besitz heruntergeschaut hatte. Jetzt, mehrere hundert Jahre später, gehörte das Land ihm, und es lag in seiner Hand, etwas daraus zu machen, es zu gestalten und zu führen. Alles und jeder auf seinem Grund unterlag seiner Zuständigkeit.
»Wie ist die Aussicht da oben?«, vernahm er Catherines Stimme von unten.
»Hervorragend. Kommen Sie und sehen Sie selbst, wenn Sie möchten.«
Sie legte das Skizzenbuch auf die Mauer und begann mit gerafften Röcken den Hügel hinaufzusteigen.
Leo hatte sich ihr zugewandt, sein Blick ruhte auf ihrer schlanken, bezaubernden Gestalt. Sie hatte Glück, dass das Mittelalter längst vorbei war, dachte er und lächelte insgeheim. Sonst wäre sie wohl von irgendeinem plündernden Lord einfach geschnappt und vernascht worden. Doch der Anflug von Belustigung schwand sofort, als er sich die primitive Befriedigung ausmalte, sie einfach hochzuheben und auf einen weichen Untergrund zu betten.
Einen Augenblick verweilte er bei dem Gedanken … sich auf ihren sich windenden Körper herabzusenken, ihr die Kleider vom Leib zu reißen, ihre Brüste mit Küssen zu bedecken …
Leo schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu vertreiben. Er war ein wenig besorgt über die Richtung, die sie eingeschlagen hatten. Was auch immer er für einer war, er war jedenfalls kein Mann, der sich einer Frau in irgendeiner Weise aufzwang. Und doch war die Fantasie zu mächtig, um sich ihr gänzlich zu entziehen. Mit großer Anstrengung gelang es ihm, den barbarischen Impuls zu bezwingen.
Catherine befand sich etwa auf halber Strecke, als sie einen leisen Schrei ausstieß und strauchelte.
Besorgt schritt er auf sie zu. »Sind Sie gestolpert? Sind Sie … verdammt!« Er blieb auf der Stelle stehen, als er sah, dass der Boden unter ihr teilweise nachgegeben hatte. »Halt, Cat. Rühren Sie sich nicht vom Fleck. Warten Sie !«
»Was ist das?«, fragte sie kreidebleich. »Ein Erdloch?«
»Eher ein verdammtes architektonisches Wunder. Wie es scheint, befinden wir uns auf einem Dachteil, das im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte hätte einstürzen müssen.«
Sie standen ungefähr fünf Meter voneinander entfernt, Leo oben und Catherine unten.
»Cat«, sagte er beschwichtigend, »legen Sie sich langsam flach auf die Erde, um das Gewicht auf eine größere Fläche zu verteilen. Vorsichtig. Ja, genau so. Und jetzt müssen Sie den Hügel langsam wieder hinunterkriechen.«
»Können Sie mir helfen?«, bat sie, und das Zittern in ihrer Stimme zerriss ihm das Herz.
Er antwortete mit einer belegten Stimme, die nicht wie seine eigene klang. »Meine Liebe, nichts wäre mir lieber. Doch könnte mein Gewicht das Dach vollständig zum Einsturz bringen. Kriechen Sie jetzt rückwärts. Vielleicht beruhigt es Sie, wenn ich Ihnen sage, dass der Sturz nicht so tief sein kann, mit dem ganzen Schutt, der darunter verborgen sein muss.«
»Tatsächlich beruhigt mich das überhaupt nicht.« Kreidebleich bewegte sie sich langsam auf Händen und Knien rückwärts.
Leo blieb, wo er war, ließ Catherine aber nicht aus den Augen. Der Boden, den er für einen festen Untergrund gehalten hatte, war vermutlich nichts weiter als eine Schicht Erde über einem Haufen alten verrotteten Holzes. »Ihnen wird nichts passieren«, beschwichtigte er sie, während sein Herz vor Verlangen wild zu pochen begann. »Sie wiegen nicht mehr als ein Schmetterling. Es war mein Gewicht, das das verrottete Balkenwerk zu sehr belastet hat.«
»Liegt es daran, dass Sie sich nicht vom Fleck rühren?«
»Ja. Sollte es bei meinem Versuch, mich von hier wegzubewegen, zum Einsturz kommen, wüsste ich Sie gerne in Sicherheit.«
Sie beide spürten, wie der Boden unter ihnen allmählich nachgab.
»Mylord«, sagte Catherine mit vor Schreck aufgerissenen Augen, »glauben Sie, das hier könnte etwas mit dem Ramsay-Fluch zu tun haben?«
»Der Gedanke ist mir noch gar nicht gekommen«, erwiderte Leo. »Danke, dass Sie mich darauf aufmerksam machen.«
Das Dach brach ein, und gemeinsam stürzten
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