Labyrinth der Spiegel
dass man uns nicht mal in Prozent erfasst, sondern pro Kopf zählen kann …
»Hier?«, fragte der Fahrer.
»Ja, danke.«
Ich bezahlte, stieg aus und ging zu meiner Haustür, wobei ich mich wie ein Luftballon kurz vorm Platzen fühlte. Entweder verschwand ich sofort im Bett und akzeptierte, dass ich mich morgen völlig erschlagen fühlen würde, oder ich tauchte in die Tiefe ein. Sie ist ein gutes Mittel gegen Kater.
Im ersten Stock brannte ständig eine Lampe, warum auch immer. Auf dem Treppenabsatz saßen fünf Teenies. Sie spielten auf dem Fußboden Karten und unterhielten
sich mit gedämpfter Stimme. Nein, »unterhalten« war nicht das richtige Wort, sie schrien sich halblaut an. Zwei von ihnen kannte ich, die anderen drei nicht. Ein Rudel kleiner Raubtiere. Sie beißen mit Vorliebe in dunklen Hausaufgängen einzelne Personen. Mir drohte jedoch keine Gefahr. Raubtiere gehen nicht vor ihrer Höhle auf Jagd.
»Hallo«, brummte einer von ihnen, mein Nachbar über mir. Er bewohnte mit seinen Eltern und seiner älteren Schwester, die oft erst gegen Morgen nach Hause kam, eine Einzimmerwohnung, die meiner haargenau entsprach. Da man bei uns jedes Wort hörte, wusste ich über all ihre Probleme und Streitereien bestens Bescheid.
»Hallo«, erwiderte ich.
»Haben Sie eine Zigarette, Ljonja?«
Ich war fünfzehn Jahre älter als diese Teenies, trotzdem hielten sie mich mehr oder weniger für einen von ihnen. Wahrscheinlich weil ich nicht verheiratet war und sich in meinem Müll leere Bierdosen stapelten.
»Ja, ich hol sie dir.«
Obwohl ich nicht rauchte, hatte ich immer ein, zwei Päckchen Zigaretten auf Vorrat, für die Hacker, die mich besuchten, denn Rauchen gehörte bei ihnen quasi zum Job.
Der Junge blieb geduldig vor meiner Wohnungstür stehen, während ich den Kanister absetzte, Licht machte und im Schrank kramte. »Hier.«
Er nickte dankbar, machte die Schachtel auf, um sich eine zu nehmen, doch ich bedeutete ihm, das ganze Päckchen zu behalten, und schloss die Tür hinter mir ab. Raubtiere muss man füttern. Ein bisschen. Damit sie nicht
frech werden und selbst in ihren biervernebelten Hirnen immer abgespeichert haben, dass dieser Typ okay ist.
Ich zog mich schnell aus, schmiss die Sachen aufs Bett, ging ins Bad und stellte mich kurz unter die kalte Dusche.
Nein, ich würde nicht schlafen. Die Tiefe wartete.
Den ganzen Tag über hatte ich versucht, nicht an den Mann Ohne Gesicht zu denken. Und auch nicht an den Orden der Allmächtigkeit, der dort im Lager auf mich wartete. Aber jetzt, wo es dunkel war, wo der virtuelle Raum immer näher rückte, wollte mir beides nicht mehr aus dem Kopf gehen.
Der Mann und der Orden.
Zuckerbrot und Peitsche.
Was konnte im Labyrinth passiert sein, womit zwei Diver nicht zurechtkamen? Profis, die zwar anonym, aber fest fürs Labyrinth arbeiteten? Die es genau kannten. Bis in den hintersten Winkel hinein.
Wofür gab es keine Entsprechung in der realen Welt?
Verdammt merkwürdig!
Ich trocknete mich ab, warf das Handtuch in einen Korb mit Dreckwäsche, ging zurück ins Zimmer, schaltete den Rechner ein und zog mir den Sensoranzug an.
»Guten Abend, Ljonja«, begrüßte mich Vika.
»Hallo, alte Schachtel.«
Das weibliche Gesicht auf dem Bildschirm lächelte. Da musste ich mir mal was einfallen lassen. Auf die Bezeichnung »alte Schachtel« sollte sie anders reagieren, leicht beleidigt, mit zusammengekniffenen Lippen und einem Blick ins Leere.
»Hab ich Post?«
»Sieben Mails.«
»Lies sie vor!«
Nichts Interessantes. Einladungen für zwei neu eröffnete Clubs, die Preisliste von einer kleinen Firma, eine Mail von Maniac, die er mir schon heute Morgen geschickt hatte …
»Alles löschen«, sagte ich und setzte mich an den PC, schloss den Anzug an und stülpte mir den Helm auf. »Wähle dich in Deeptown ein, Vika! Über den Reservekanal, Figur Nr. 7!«
Diesen Zugang hatte ich schon seit gut drei Monaten nicht mehr benutzt. Genauso wenig wie die Figur, einen Typ in stahlgrauem Anzug und schwarzem Hemd mit Halstuch und Lederstiefeletten, mit einem geschmeidigen, schlanken Körper, einem schmalen, dunkelhäutigen Gesicht, schulterlangem Haar und einer tiefen, kräftigen Stimme.
»Der Reservekanal, Figur Nr. 7«, bestätigte Vika.
Ein Regenbogen vor meinen Augen, ein Feuerwerk, das gierige Anbranden einer Feuerwelle. Die Tiefe .
Ich sitze in einem winzigen Zimmer. Ein Stuhl, ein Tisch mit dem Rechner, nicht mit meinem, sondern mit irgendeinem völlig
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