Lady Lavinias Liebestraum
Der Earl of Corringham erwartet Sie unten im Gesellschaftszimmer”, verkündete die Zofe und empfahl sich mit einem Knicks.
Wenig später schritt Lavinia in einem frischen Tageskleid die Stufen zum ersten Stock hinab. Ihr lockiges weiches Haar fiel offen über Schulter und Brust, hatte sie doch davon abgesehen, es in einem ordentlichen Knoten im Nacken zusammenzubinden, bis Daisy ihr wieder zur Verfügung stand.
Als sie den Salon betrat, wandte sich James, der eben noch mit dem Rücken zu ihr vor dem Fenster gestanden hatte, um und schaute zu ihr hinüber. Welch feengleiche Erscheinung, dachte er. Ihre grünen Augen funkelten wie Smaragde, ihr cremeweißes Antlitz war umrahmt von glänzenden kastanienbraunen Locken. Und dieses entzückende Kleid, das ihre ungemein weibliche Figur so überaus vorteilhaft betonte! Obgleich er sie geradezu anstarrte, schien sie sich ihrer Wirkung überhaupt nicht bewusst.
“Lavinia, wie geht es dir?”, erkundigte er sich und kam auf sie zu.
Verwirrt und zugleich verwundert schaute die junge Dame zu ihm auf. “Gut, natürlich.”
“Es tut mir leid, dass ich vorhin so aufgebracht war.”
“Wie ich dir bereits erklärt habe, bestand kein Grund dazu, James. Das Ganze war ein unglückseliger Vorfall, aber niemand ist zu Schaden gekommen. Daher würde ich die Sache lieber vergessen.”
“Heißt das, du wirst deinem Vater erst gar nichts davon erzählen?”
“Nein. Er hat zurzeit genügend andere Sorgen”, erwiderte Lavinia mit einem Seufzer.
James ergriff ihre beiden Hände. “Ich werde kein weiteres Wort darüber verlieren, meine Liebe – vorausgesetzt, du gehst die nächste Zeit nicht allein aus dem Haus.”
Sie betrachtete ihre Hände, die in seinen so klein aussahen. Wie immer empfand sie seine Berührung als angenehm zärtlich, und sie fühlte sich sicherer denn je in seiner Nähe. Er ist in der Tat ein außerordentlich liebenswerter Mann, dachte sie bei sich; wie glücklich sie sich doch schätzen konnte, von ihm beschützt zu werden. “Das verspreche ich dir”, sagte sie leise und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihn auf die Wange zu küssen. “Genügt dir dies als Garantie?”
James lächelte wehmütig und berührte andächtig seine Wange. “Ich schätze, das muss es.”
“Bald wird Mama zurück sein, denn wir wollen heute Abend ins Theater. Wenn du möchtest, besuch uns doch in Papas Loge.”
“Nein, danke, ich bin leider beschäftigt.”
“Oh … darf ich ihren Namen erfahren?”, erkundigte Lavinia sich mit ironischem Unterton, der ihr Missfallen über seine Absage überdecken sollte.
“Es handelt sich nicht um eine Frau, sondern um etwas Geschäftliches, das keinen Aufschub duldet.”
Sie lächelte. “Na schön, aber kannst du morgen Nachmittag vorbeikommen? Ich möchte allen Mitspielern ihre Rollen zuweisen.”
“Ich dachte, du wolltest mit den Proben erst nach Lady Grahams Ball beginnen.”
“Morgen findet auch keine Probe statt. Ich möchte euch nur mitteilen, wer welchen Part übernimmt, damit ihr rechtzeitig mit dem Auswendiglernen anfangen könnt.”
“Ich werde Ihnen gern zur Verfügung stehen, Mylady”, erwiderte er in feierlichem Ton und machte, während er sich tief vor ihr verbeugte, mit der rechten Hand eine schwungvolle Geste. “‘Bei jedem Schwur, den Männer je gebrochen, mehr an der Zahl, als Frauen je gesprochen: Du findest sicher morgen Nachmittag mich an dem Platz, wo wir es ausgemacht.’”
Lavinia lachte erstaunt auf. “Ich wusste gar nicht, dass du so vertraut mit dem Stück bist, James, aber du hast gerade die Hermia zitiert!”
“Ich habe diese Rolle dereinst in der Schule übernehmen müssen, da ja leider keine Mädchen zur Verfügung standen.”
“So hat man es auch bereits zu Shakespeares Zeiten gemacht. Dennoch kann ich mir dich überhaupt nicht in Frauenkleidern vorstellen”, spöttelte sie.
“Nein? Damals war ich jung und noch schlanker. Einige Unterröcke mehr und eine vorteilhafte Perücke machten die Verwandlung perfekt. Indes hoffe ich doch sehr, dass dich dies nicht zur Abänderung deiner Pläne inspiriert. Ich bin inzwischen zu groß und breitschultrig, und an meinem Kinn wachsen lästige Barthaare. Überdies hat sich meine Stimmlage seitdem verändert. Mein Falsett lässt jetzt doch sehr zu wünschen übrig”, erwiderte er schmunzelnd.
“Ich habe nicht vor, dich in Verlegenheit zu bringen, James”, lachte sie, wurde jedoch wieder ernst. “Du wirst doch kommen, nicht
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