Lady Lavinias Liebestraum
die Grenzen der Schicklichkeit überschritten hatte. “Bitte verzeih mir, Lavinia. Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich habe wohl meine Manieren vergessen.”
Sie verstand nicht. Er hatte sich für diese zärtliche Geste entschuldigt, als habe er sein Tun bedauert. Er sah also noch das Mädchen in ihr, das man necken konnte und mit dem man eher zu scherzen aufgelegt war, als es zu lieben, wie man eine Frau liebt. Sie würde lieber sterben, als sich die Blöße zu geben, ihm ihre Gefühle zu gestehen.
“Oh, bitte lass Sir Percy nicht länger warten. Und hör endlich damit auf, dich über mich lustig zu machen.”
James verschlug es die Sprache; offenbar hatte sie ihn missverstanden. Sie gebärdete sich im Augenblick jedoch so abweisend und unzugänglich, dass er davon absah, sich in ausschweifenden Erklärungen zu ergießen, zumal Sir Percy sicher langsam ungeduldig wurde. Er nickte Lavinia kurz zu, nahm seinen Hut und ging.
Betrübt sank Lavinia auf einen Stuhl; obgleich sie enttäuscht und verletzt darüber war, dass James sich ihr zu entziehen schien, verspürte sie noch immer das Verlangen, von ihm leidenschaftlich geküsst zu werden. Sie verlangte so dringlich danach, seine Lippen auf ihren spüren, als müsse sie nach langer Entbehrung heftigsten Durst stillen.
Niemals hätte sie es für möglich gehalten, dass Liebe sich so anfühlte, dass sie zur gleichen Zeit höchst beglückt und unendlich verzweifelt sein konnte. Sie fragte sich, ob James irgendwann ihre Gefühle erwidern würde. Lord Wincote hingegen hatte von Anfang an kein Geheimnis aus seinen Absichten gemacht, hatte sie stets ernst genommen und ungeduldig auf ihre Antwort gewartet – jedenfalls bis vor wenigen Tagen noch. Welch ein Jammer, dass sie nicht in ihn verliebt war.
Sie ließ Wincote nur ungern im Ungewissen, doch das Theaterstück hatte jetzt oberste Priorität. Alle anderen Belange mussten warten. Natürlich wusste sie, dass die bevorstehende Aufführung einen willkommenen Aufschub ihrer Probleme darstellte, aber im Moment wollte und konnte sie nicht weiter über ihre Zukunft nachdenken.
Sie erhob sich und verließ den Ballsaal, um die Halle zu durchqueren und die Treppe zu ihrem Zimmer hinaufzusteigen. Oben angekommen, schaute sie aus dem Fenster, welches den Blick auf den Platz vor dem Haus freigab. James und Sir Percy betraten, offenbar in ein äußerst angeregtes Gespräch vertieft, gerade das Trottoir. Sie fragte sich, was die beiden wohl zu besprechen hatten.
“Wissen Sie wirklich nicht, warum Lord Wincote und Lady Rattenshaw nicht erschienen sind?”, fragte James den Freund mit einem Stirnrunzeln.
“Nein, aber ich bin froh, dass sie heute fehlten. Ich wusste ja nicht, dass Lady Lavinia die Absicht hatte, Lancelot Greatorex nach Stanmore House einzuladen.”
“Weshalb?”
“Nun, er darf auf keinen Fall mit Marianne Doubleday alias Lady Rattenshaw zusammentreffen.”
James warf dem älteren Gentleman einen verblüfften Blick zu. “Höre ich richtig?”
“Durchaus. Sie ist ebenfalls Schauspielerin und hat vor einiger Zeit mit ihm zusammen auf der Bühne gestanden. Er würde sie bestimmt wiedererkennen.”
“Lady Rattenshaw ist also eine Schauspielerin! Ich hätte es mir eigentlich denken können, denn sie hat die Helena atemberaubend gut gespielt”, erwiderte James und schüttelte noch immer erstaunt den Kopf. “Was sollen wir jetzt tun?”
Sir Percy rieb sich das Kinn. “Wir müssen unser kleines Vorhaben wohl abbrechen.”
“Und was erzählen wir Lady Lavinia? Und den anderen Beteiligten?” James seufzte. “Natürlich darf Miss Doubleday nicht länger bei den Proben dabei sein. Denn wenn sie enttarnt würde, bestünde noch eine ganz andere, viel ernster zu nehmende Gefahr.”
“Sie wollen doch nicht etwa andeuten, der Mann sei ernsthaft gefährlich?”, fragte der Freund bestürzt.
Nachdem James ihm seinen Verdacht offenbart hatte, kamen sie zu dem Schluss, Miss Doubleday augenblicklich eine Nachricht überbringen zu lassen und sie zu bitten, noch heute Abend nach Corringham House zu kommen – es sei von größter Wichtigkeit.
Wenige Stunden später hatte Miss Marianne Doubleday es sich auf dem Kanapee im Empfangszimmer von Corringham House bequem gemacht und nippte an ihrem Likör.
Sie schmunzelte. “Wie fanden Sie meine Darbietung als Lady Rattenshaw, Mylord?”
“Sie waren in der Tat sehr überzeugend. Allerdings befürchte ich, dass wir mehr Schaden mit Ihrer ganz privaten Vorstellung
Weitere Kostenlose Bücher