Lady Marys romantisches Abenteuer
konnte. „Ich wurde auf den Namen John Fitzgerald getauft, und mit ihm werde ich auch beerdigt werden. Und wenn ich selten von meiner Familie spreche, dann deswegen, weil sie auch selten von mir spricht.“
Sie wandte ihm das Gesicht zu und blickte ihn fragend an. „Aber wenn es doch Ihre Familie ist, dann …“
„Nicht alle Familien sind gleich, Mary“, entgegnete er, und die alte Traurigkeit stieg wieder in ihm auf. „Ich war der sechste Sohn und hatte auch noch zwei Schwestern. Unser Haus war ein mit Schulden belastetes Durcheinander, mein Vater selten zu Hause, meine Mutter oft betrunken. Meine Hosen waren geflickt, und im Sommer gingen wir barfuß, um unsere Schuhe zu schonen. Wir glichen eher einer armen Bauernfamilie als der Familie eines Adeligen. War es da ein Wunder, dass wir Geschwister uns, sobald wir konnten, in alle Winde verstreuten, um in einer Welt unseren Weg zu machen, die versprach, gastfreundlicher zu sein als unser eigenes Heim?“ Er schaute zur Seite, weil er das Mitleid nicht sehen wollte, das jetzt sicher in ihren Augen stand, und gab vor, das Porträt einer früheren, in smaragdgrüne Seide gehüllten Princesse de Condé zu bewundern.
„Überhaupt kein Wunder“, stimmte sie ihm ruhig und ohne das befürchtete Mitleid zu, so, als würden sie sich nur über den Eierpreis auf dem Markt unterhalten. „Sind Sie stolz auf das Leben, das Sie sich geschaffen haben?“
„Ich bereue nichts“, sagte er, und das war die Wahrheit. Er hatte getan, was immer er hatte tun müssen.
„Auch nicht Ihre … Ihre Vertrautheit mit Schusswaffen?“
Einen schrecklichen Moment lang dachte er, sie hätte etwas über das Duell erfahren. Dann erkannte er, dass sie den Vorfall in der Kathedrale meinte. „Wenn ich diese Pistole nicht bei mir getragen hätte, hätte ich nicht überlebt, um jetzt hier zu sein, oder um Sie in Amiens zu beschützen.“
„Das ist wahr“, sagte sie leise. „Nur zu wahr. Und Sie sind glücklich so? Ohne Familie, ohne ein richtiges Heim? Mit niemandem als Sie selbst, auf den Sie sich verlassen können?“
„Glücklich genug.“ Seine Familie war, wie sie war, schlicht und einfach, und noch so viel Zärtlichkeit und Freundschaft anderer konnten nicht in die Vergangenheit reichen und seine Kindheit ändern. Es war viel besser, sich jetzt auf den Mann zu konzentrieren, der er geworden war, als über eine weit entfernte Vergangenheit zu jammern.
Doch was sie als Nächstes sagte, hätte er nie erwartet.
„Dann sind Sie wie meine Mutter“, meinte sie langsam. „Genau so. Ich war noch jung, als sie starb. Aber ich erinnere mich immer noch daran, wie sie uns manchmal Geschichten aus ihrer Kindheit erzählte. Sie war eine Waise, von Dienern und einem Vormund aufgezogen, den sie kaum sah. Doch ganz gleich, wie einsam sie auch war, sie glaubte daran, dass sie sich eine Familie schaffen würde, wenn sie erwachsen wäre. Eine Familie voller Liebe und Glück.“
„Und nichts konnte ihr wundervolles Glück jemals mehr stören“, sagte er und gab sich keine Mühe, seine Geringschätzung zu verbergen. „Was für ein hübsches Märchen. Soll es bezwecken, dass ich mich besser oder schlechter fühle?“
„Keins von beiden“, erwiderte Mary unbeeindruckt von seinem Spott. „Ich erzähle es Ihnen nur, damit Sie sehen, dass es möglich ist. Sicher haben Sie es in der Welt zum Erfolg gebracht. Jetzt müssen Sie Ihre Seele finden und Ihre Liebe. Das Glück kommt dann von allein.“
Solch eine unschuldige Zuversicht behagte ihm nicht, und es gab in seiner Welt auch keinen Platz für sie. „Ist das das Rezept eines praktischen Mädchens vom Lande?“
„Vermutlich ja“, antwortete Mary, „Ich wäre erfreut, wenn Sie sich entschlössen, nach ihm zu handeln.“
Er hob ihre Hand zum Mund und strich leicht mit den Lippen darüber. „Und wenn nicht?“
Vielleicht hatte sie gerade gelächelt. Er war sich nicht sicher. „Dann verstehe ich Sie, John, so wie Sie behaupten, mich zu verstehen.“
„ Monsieur et madame, s’il-vous-plaît .“ Gervais verbeugte sich schon wieder. Während er die Doppeltür zum nächsten Raum offenhielt, bat sein rundes Gesicht um Vergebung, weil er des Englischen nicht mächtig war. „ Voyez. Les primitifs d’Italie .“
Der Raum war kleiner als alle anderen, die sie passiert hatten, ein vergleichsweise winziger Kubus mit nur einer einzigen Reihe vorhangloser Fenster ganz hoch oben, die das Sonnenlicht hereinließen. Die Wände waren mit rotem
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