Lady meines Herzens
verstorbenen Tante Eleanor sogar Auswirkungen auf sein eigenes Leben hatte, kam ihm in seinen herzloseren Momenten ziemlich lächerlich vor. Wie konnte eine Liebe, die so schrecklich endete, noch Jahrzehnte später das Leben anderer Menschen nachhaltig beeinflussen? Zumal das Leben einiger Menschen, die der tragischen Protagonistin nie begegnet waren?
In gewisser Weise war der Tod von Clarissas Tante dem Tod seines Vaters nicht unähnlich, der auch heute, zwölf Jahre und zehn Monate später, immer noch Auswirkungen auf sein Leben hatte. Er litt noch immer darunter. Aber mit diesem Gedanken würde er sich ein anderes Mal befassen.
Ohne allzu große Erwartungen, aber von einer verzweifelten Hoffnung beseelt, nahm Brandon den Vertrag zur Hand. Eine Stunde später legte er ihn beiseite.
Es gab nur eine Möglichkeit. Wenn Clarissa ohne jeden Zweifel absolut und schändlich kompromittiert wurde, konnte er einen Rückzieher machen, ohne finanzielle Einbußen fürchten zu müssen.
Aber es gab auch noch andere Dinge, die er berücksichtigen sollte.
Gründe, warum er Clarissa nicht sitzen lassen konnte
1. Ihr Ruf würde großen Schaden nehmen. Sie würde wahrscheinlich niemals heiraten.
2. Sein Ruf würde Schaden nehmen. Selbst doppelte Dukes konnten so etwas nicht ignorieren.
3. Lord und Lady Richmond steckten bis zum Hals in Schulden – wie auch all ihre Pächter und die Kaufleute, die sich auf sie verließen. Es gäbe für keinen von ihnen Hoffnung, wenn Brandon nicht eine ordentliche Summe Geld in die Güter der Richmonds steckte.
4. Von Vennigan war vielleicht bereit, Clarissa zu heiraten. Aber würde er das auch noch wollen, wenn er von den Schulden erfuhr? War seine Liebe von der beständigen Sorte oder nur eine flüchtige Laune? Er war so jung und leichtfertig … Brandon traute ihm nicht zu, eine Angelegenheit dieser Tragweite zu regeln. Er würde ihm nicht einmal ein Buch aus der Leihbücherei anvertrauen.
5. Und dann war da noch Charlotte, seine zu Ohnmachtsanfällen neigende Schwester. Ihr Zustand mochte medizinisch begründet sein oder nur Ausdruck ihres stets zu Scherzen aufgelegten Naturells. Keins von beidem ließ für ihr Debüt im nächsten Jahr große Hoffnungen aufkeimen. Sie verdiente es einfach nicht, im Schatten eines Skandals in die Gesellschaft eingeführt zu werden.
6. Außerdem gab es noch dieses schreckliche Geheimnis, das wahr sein konnte. Oder auch nicht.
Jemand klopfte an die Tür. Es war Spencer, der eintrat.
»Euer Gnaden, darf ich Sie daran erinnern, dass Sie in Kürze mit dem Prinzen von Bayern in Angelos Fechtakademie verabredet sind?«
»Ja, danke.«
»Und falls Sie noch einen Moment Zeit für mich hätten?«, bat Spencer.
Brandon schaute auf die Uhr. Es war halb vier. Himmel, er kam zu spät. Das passierte ihm sonst nie .
»Ein anderes Mal, Spencer.«
»Aber Euer Gnaden! Es ist von größter Dringlichkeit!«, rief Spencer.
In dem Moment wollte Brandon nicht wissen, worum es ging. Er verließ eilig sein Arbeitszimmer und kurz darauf Hamilton House.
So weit war es mit ihm gekommen: Er trank schon nachmittags, trug nachlässig geknotete Krawatten, suchte nach Schlupflöchern, um vertragsbrüchig zu werden, vernachlässigte seine Geschäfte zugunsten eines Fechtkampfs – zu dem er auch noch zu spät kam. Er war wirklich auf dem besten Wege, ein verantwortungsloser Schurke zu werden.
In Harry Angelos Fechtakademie
The Albany, London
»Eine Verspätung hätte ich ausgerechnet von Ihnen nicht erwartet«, begrüßte von Vennigan ihn, als Brandon die Fechtakademie betrat.
»Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, Könige warten zu lassen.«
»Dann haben wir etwas gemeinsam«, grinste von Vennigan gut gelaunt.
Harry Angelo stand heute völlig neben sich. Nicht nur ein Prinz und ein Duke waren in seiner Akademie, sondern auch zwei der besten Fechter ganz Europas. Er schwebte förmlich durch die Halle, bot ständig seine Hilfe an, ließ Diener Erfrischungen und einen Imbiss herbeischaffen, falls die beiden Herren Appetit entwickelten, und schickte die schlechten Schüler nach Hause. Er wollte nicht, dass sie ihn mit ihrem geringen Können in Verlegenheit brachten.
»Ich glaube, wir verfügen beide über die nötigen Fähigkeiten, um ohne Masken zu kämpfen«, schlug von Vennigan vor. Brandon war einverstanden.
Während sie sich umzogen und auf den Kampf vorbereiteten, redeten sie über das Wetter. Erst als sie mit gezogenem Degen voreinanderstanden, begann das ernste
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