Laienspiel
Kudratov?«
»Dazu sage ich nichts. Aber mir war von Anfang an klar: Dieser Weg wird kein leichter sein.«
Aus dem Grinsen Kudratovs sprach blanker Hohn. Kluftinger atmete tief durch, um nicht die Fassung zu verlieren. Mittlerweile hatte er so viel dazugelernt. Sogar vor Kudratov war ihm die Antwort auf die erste Mail, die Liedzeile, die der Tadschike gerade wiederholt hatte, jetzt peinlich. Kluftinger sah wieder und wieder auf die Uhr. Zehn Minuten vor sieben. Ausgerechnet jetzt, wo Kudratov zu reden begann, lief ihm die Zeit davon.
»Die Zeit wird knapp, Herr Kluftinger.«
Am liebsten hätte der Kommissar seinem Ärger wie Yildrim mit einer Ohrfeige Luft gemacht. Er ging auf Kudratov zu und packte ihn am Kragen.
»Lassen Sie mich los! Vergehen Sie sich auch an Festgenommenen wie Ihr Vorgesetzter? Erbärmlich, einen Mann in Handschellen anzugehen. Nun, ich denke, das liegt daran, dass Sie in diesem Fall einmal nicht bekommen, was Sie wollen. Und das könnte aus Ihrer Sicht schlimme Konsequenzen haben. Das macht Sie so nervös.«
»Wenn Sie meinen, Sie haben hier die große Macht, täuschen Sie sich, Kudratov! Wir lassen um sieben evakuieren. Und Ihr wunderbarer Plan zerplatzt wie eine Seifenblase.«
Kudratov lehnte sich zurück, streckte eine Hand aus und besah sich scheinbar in aller Ruhe seine Fingernägel. Beiläufig erwiderte er: »Ach ja? Wie viele Menschen sind denn gerade dort? Fünfzehn-, zwanzigtausend? All diese armen Seelen gehen damit indirekt auf Ihre Rechnung.«
»Was reden Sie denn da für wirres Zeug? Sie sind es, der die Menschen auf dem Gewissen haben wird, nicht wir.«
»Sie haben unsere Korrespondenz nicht richtig gelesen. Sie haben von Anbeginn den Code nicht durchschaut. Sonst wüssten Sie, dass die Räumung keinerlei Sinn haben wird.«
Kluftinger runzelte die Stirn. »Wissen Sie was? Hören Sie doch auf mit Ihren Kindereien! Lassen Sie Ihr schwülstiges Gebrabbel, wo es hingehört: bei Karl May!«
Kudratov bekam ein rotes Gesicht. Zornig presste er hervor: »Glauben Sie nicht, dass es sich hier um irgendein Laienspiel handelt, das wir aufführen. Wir haben doppelte Sicherheit eingebaut: Wenn Sie evakuieren lassen, geht die Bombe per Fernzünder hoch. Viel Spaß, im ausverkauften Stadion den Mann mit dem Handy zu suchen. Höchstens neunzig Prozent der Leute dürften eines dabeihaben.«
Dann lehnte er sich zurück und verschränkte die Arme.
Kluftinger realisierte es erst nach einigen Augenblicken: Der sichere Ausweg, den sie bis hierher hatten, war keiner mehr. Er musste Yildrim sofort warnen. Kluftinger sah zur Uhr: drei Minuten vor sieben!
Hektisch zog er sein Telefon aus der Jackentasche und wählte die Nummer. Kluftinger hörte im Hintergrund die Stadiongeräusche. Gott sei Dank, dort schien ja noch alles normal.
»Kluftinger, ich gehe jetzt in den Technikraum. Wir machen die Durchsage.«
»Nein! Auf keinen Fall evakuieren!«, schrie der Kommissar.
»Wie bitte? Ich verstehe Sie kaum. Wir werden jetzt evakuieren.«
»Nein! Kreuzkruzifix, verstehen Sie doch, Yildrim! Auf keinen Fall evakuieren, sonst fliegt Ihnen das Stadion um die Ohren!«
Wenig später stand Kluftinger allein in dem Vernehmungsraum und starrte auf den Plan des Tivolistadions in Innsbruck. Er durfte nicht daran denken: Dreißigtausend Menschen befanden sich jetzt darin. Und eine Bombe. Nur wo? Sie hatten noch zwei Stunden. Den Gedanken, die Handynetze einfach abzuschalten, damit der Sprengsatz nicht mehr über Mobilfunk gezündet werden konnte, hatten sie gleich wieder verworfen: Schließlich war ebenso eine Verbindung über Satellit denkbar. Und den konnten sie nicht ausschalten.
Kluftinger sollte den Plan auf die neuralgischen Punkte untersuchen, an denen man ansetzen musste, um den größtmöglichen Schaden anzurichten. Das hatte ihm Yildrim telefonisch aufgetragen. Und nun? Er war kein Statiker. Und im Stadion gab es sicher zig solcher Punkte. Yildrim würde seinerseits mit den Verantwortlichen vor Ort versuchen, die Bombe ausfindig zu machen. Und das musste nun auch noch möglichst unauffällig geschehen.
Auf einmal fuhr Kluftinger hoch. Er hielt kurz inne und stürzte aus dem Raum. Natürlich, da war etwas gewesen. Er war sich sicher …
Er nahm im Laufschritt die Treppe zum zweiten Stock der Polizeidirektion. Dort war der Medienraum, in dem Filme ausgewertet, geschnitten, untersucht und analysiert wurden. Meist Überwachungsfilme von den Kollegen der Verkehrspolizei. Heute aber hatten sich die
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