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Laienspiel

Laienspiel

Titel: Laienspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Kobr Volker Klüpfel
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ein wenig erschrak: Der Blick auf seine Füße offenbarte in der rechten Socke, auf Höhe des großen Zehs, ein Loch. Ihre Blicke begegneten sich, und sie trafen eine stille Übereinkunft darüber, wie sie mit dieser Sachlage umgehen würden: Sie würden schweigen. Nur keine Aufmerksamkeit auf das Loch im Strumpf lenken. Hoffen, dass es nicht auffallen würde. Ganz langsam krümmte er den Zeh und zog ihn tiefer in den Strumpf zurück. Das wortlose Einverständnis zwischen ihnen in derartigen Situationen war einer der Gründe, warum er seine Frau so liebte.
    »Hoi«, beendete Mutter Kluftinger seinen sentimentalen Gedankenflug, »da schaut ja die Kartoffel raus!«
    Kluftinger presste die Zähne zusammen. Er erwog ernsthaft, seine Eltern entmündigen und in ein Altersheim in Brandenburg einweisen zu lassen. Er versteckte seinen rechten Fuß verschämt unter dem Linken und warf dem Verkäufer einen prüfenden Blick zu. Der neigte sich zu Hedwig Kluftinger und seufzte: »Kinder!« Und obwohl seine Mutter zu flüstern versuchte, was bei ihr mit zunehmendem Alter und ebensolcher Schwerhörigkeit immer mehr in Zimmerlautstärke geschah, bekam er mit, wie sie zu Erika sagte: »Gib mir halt die Socken mit, wenn sie Löcher haben, ich stopf sie ihm. Einen Mann in seiner Position kann man ja nicht in löcherigen Strümpfen rumlaufen lassen, das geht doch nicht.«
    Für Kluftinger war dies das Stichwort: Augen zu und durch, dachte er, probierte den ersten Schuh, ein elegantes schwarzes Modell mit »Budapester Lochmuster«, wie der Verkäufer extra erwähnte, stellte sich kurz hin, stampfte einmal mit dem Fuß auf dem Boden auf und sagte: »Passt wie angegossen. Die nehmen wir.« Dann setzte er sich wieder hin, streifte den Schuh abermals ab, ohne ihn aufzuschnüren und hielt ihm den Verkäufer hin: »Können S’ gleich einpacken.«
    »Ja, von wegen!«, mischte sich Hedwig Kluftinger ein. »Die werden jetzt erst einmal richtig probiert. Kein bisschen verändert hat sich der Junge.«
    Erikas »Elegant wären sie aber schon!« überhörte sie einfach. Der Kommissar hatte sich schon oft über ihre selektive Schwerhörigkeit geärgert, manchmal nötigte sie ihm aber auch Respekt ab.
    Während er, wie von seiner Mutter geheißen, beide Schuhe anzog und sie fest zuschnürte, setzte die ihre Unterhaltung mit H. Sigel fort: »Schon als Kind hat er nie probieren wollen und beim ersten Paar gesagt, es würde passen. Und dann sind sie in der Ecke gestanden, weil sie gedrückt haben hinten und vorn. Und dann hat man wieder neue kaufen müssen für ihn.«
    Der Verkäufer begleitete jeden ihrer Sätze mit heftigem Kopfnicken. Die beiden schienen sich blendend zu verstehen. Schlagartig wurde dem Kommissar klar, wieso er es so hasste, Schuhe zu kaufen. Es handelte sich ganz offensichtlich um ein unverarbeitetes Kindheitstrauma.
    »Passen. Beide«, versuchte Kluftinger noch einmal, den Einkauf schnell zu beenden.
    Doch seine Mutter nahm das gar nicht zur Kenntnis. »Lauf doch mal ein bissle rum. Oder, Erika?«
    Unsicher blickte Erika zwischen ihrem Mann auf der einen, Hedwig und dem Verkäufer auf der anderen Seite hin und her. »Ja, laufen wär gut«, sagte sie schließlich kleinlaut.
    Kluftinger seufzte und begann zu laufen. Als er die Runde durchs erste Stockwerk beendet hatte, bückte sich seine Mutter und drückte auf seiner Schuhspitze herum.
    »Wir bräuchten doch besser mal das Größenmessbrett«, wandte sie sich an den Verkäufer.
    »Mutter, jetzt bittschön, ich weiß meine Größe seit vierzig Jahren.«
    »Nein, die sind zu klein. Fühlen Sie mal«, forderte sie den Verkäufer auf. Auch der bückte sich nun und drückte auf Kluftingers Zehen herum. Als sich schließlich auch noch Erika in die Hocke begab, lenkte Kluftinger ein: Man könne ja ruhig noch einmal nachmessen, sicher sei eben sicher.
    Nachdem Sigel aus der Kinderabteilung das Messgerät geholt und der Kommissar eine entwürdigende Mess-Prozedur über sich hatte ergehen lassen und der Verkäufer schließlich zu Erikas stiller Freude wie ein Wahlergebnis die Größe »Zweiundvierzigeinhalb mit sehr breitem Vorfuß und hohem Rist« verkündete, wurde dem Kommissar ein zweites Paar gebracht. Er nahm es mit den Worten »Hätt’s nicht gebraucht, wo doch die ersten schon so gut gepasst haben!« entgegen. Dass ihn die in der kurzen Zeit schon so gedrückt hatten, dass seine Füße höllisch wehtaten, behielt er für sich. Vielleicht kamen die Schmerzen ja auch vom allgemeinen

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