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Lamento

Titel: Lamento Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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im graugrünen Schein der Straßenlaterne darüber zitterte. Er gehörte nicht hierher. Er war ein Relikt aus einer anderen Zeit in einem anderen Land, und die Angst vor der Gegenwart drang ihm aus sämtlichen Poren.
    »Ich fürchte mich nicht.« Ich trat einen Schritt vor und zwang mich, über den Körper des Hochgewachsenen hinwegzutreten, obwohl sich ein Teil von mir lebhaft ausmalte, wie er mich von unten packte. »Fort mit euch.«
    Mit einem zornigen Summen wie von einem fernen Bienenschwarm wichen die schwarzen Männer unterwürfig zum Feuer zurück. Sie traten rückwärts hinein, und ihre Leiber gingenaugenblicklich in Flammen auf. Ich hätte sie für tot gehalten, hätte ich nicht immer noch die Umrisse ihrer augenlosen Gesichter in den Kohlen und Scheiten des Feuers gesehen.
    Der Stier senkte den Kopf, scharrte stampfend mit einem Huf und sah mich mit großen Augen an, in deren Blick Bewusstheit lag. Irgendetwas an ihm war so alt und rein, dass ich mich nach einer unerreichbaren Vergangenheit sehnte, die ich nie erlebt hatte.
    Ich deutete eine Verbeugung an. »Gern geschehen.«
    Er schnaubte mit rotgeränderten Nüstern, machte kehrt und verschmolz mit der Dunkelheit.
    Meine Haut prickelte. Das Feenreich umgab mich. Ich musste zurück zum Anfang, ehe es zu spät war.

Buch Fünf
     
     
     
     
     
    Stehst vor der Tür, mein Liebster fein,
    Was sollt’ ich tun? Ich lass dich ein
    Aus Wind und Wetter so einsam.
    Wenn ihre Büchsen knallen
    Und Schüsse wie Hagel fallen
    Dann sterben wir gemeinsam.
    »N ED OF THE H ILL «

Zwanzig
     
     
     
     
     
    Die Türen des Schulgebäudes waren abgeschlossen, doch mit dem Mond im Rücken machte ich mir deswegen keine Sorgen. Ich brauchte nur einen Augenblick, um die Tür mit einem Gedanken zu öffnen und sie sorgfältig hinter mir wieder abzuschließen. Die Flure waren ins kränklich blaugrüne Licht der Neonröhren getaucht. Mein Magen krampfte sich vor Angst zusammen, als mir der vertraute Geruch von Hunderten Schülern, Büchern und dem Essen aus der Cafeteria in die Nase stieg. Es war, als hätte ich diese Schule nie verlassen. Ich brauchte einen Moment, um mich zu fangen und mich daran zu erinnern, wie stark ich jetzt sein konnte.
    Zögernd stand ich im Hauptflur, weil ich nicht wusste, wohin.
Es endet am Anfang
, hatte die tanzende Fee gesagt. Aber wo war der Anfang? Auf der Toilette, wo Luke mich gefunden hatte, als ich mich übergeben musste? Am Picknicktisch hinter dem Gebäude, wo wir geflirtet hatten?
    Nein, natürlich nicht. Alles hatte angefangen, als wir aufder Bühne gespielt und einen Saal voller Menschen in unseren Bann gezogen hatten.
Das
war der Anfang: Da hatte ich zum ersten Mal meine neuen Kräfte eingesetzt, obwohl es mir damals nicht bewusst gewesen war. Jetzt war es geradezu schmerzlich offensichtlich – ein »Oh-Mann-Moment«, wie James so etwas nannte.
    Meine Sohlen quietschten, als ich den Flur entlang zur Aula ging. Ich fühlte mich unangenehm sichtbar und lauschte nach anderen Schritten, obwohl dieses verdammte Quietschen wahrscheinlich sowieso alles übertönte. Jedes dunkle Sichtfenster der Unterrichtsräume streifte ich mit einem Blick, um sicherzugehen, dass mir nicht irgendwo ein seltsames Feenwesen auflauerte.
    Doch die Highschool wirkte verlassen und eiskalt in ihrer Leere.
Vertrau auf dich
, hörte ich Luke im Geiste sagen.
    Die Erinnerung an seine Stimme verlieh mir Mut, und ich straffte die Schultern.
Ich bin stark.
Ich öffnete die Tür zur Aula.
    Der große Saal war in tiefe Dunkelheit getaucht. Lange Reihen schemenhafter Klappstühle erstreckten sich vor mir, doch die Bühne war beleuchtet, als würde ein Theaterstück geprobt. In den Ecken lagen halb aufgebaute Kulissen, Überbleibsel oder Vorhut des
Sommernachtstraums
. Inmitten des Durcheinanders war ein Kreis frei geblieben. Und darin lag ein kleines, dunkles Häuflein, von einem Scheinwerfer angestrahlt.
    Das hätte alles Mögliche sein können, aber ich wusste genau, was ich vor mir hatte. Am liebsten wäre ich den Gang entlanggestürmt und auf die Bühne gesprungen, aber das musste eine Falle sein. Warum sonst hätten
sie
James mit einem Scheinwerfer anleuchten sollen?
    Also ging ich vorsichtig den dunklen Gang entlang, drehte mich um meine eigene Achse, überwachte jede Stuhlreihe,lauschte nach leisem Rascheln und schnupperte nach Thymian. Aber die Aula schien ebenso verlassen zu sein wie der Rest der Schule. Ich ging langsam weiter bis zur Treppe vor der Bühne,

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