Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Lamento

Titel: Lamento Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
Vom Netzwerk:
dorthin wollte, brauchte ich Schuhe. Ende der Diskussion.
    Ich schlich mich zur Küchentür und drehte am Türknauf; nicht abgeschlossen. Mich zwickte das Gewissen. Mom hatte sie vermutlich offen gelassen, für den Fall, dass ich nach Hause kam und keinen Schlüssel dabeihatte. Aber wenn ich jetzt zu meinen Eltern ging und ihnen sagte, dass ich heil wieder zu Hause war, würde ich nicht weiter nach Luke und James suchen können.
    Ich betrat die dunkle Küche und blieb neben der Tür stehen, bis sich meine Augen an den grünen Schimmer der Leuchtziffernan der Mikrowelle gewöhnt hatten. Meine Schuhe lagen noch immer an der Stelle, wo ich sie nach meinem Ausflug mit Sara hinterlassen hatte. Ich zog sie über die nackten Füße und suchte den Raum ab, halb in der Erwartung, Delia auf einem der Küchenstühle sitzen zu sehen, wo sie nur darauf wartete, sich auf mich zu stürzen. Mit zusammengekniffenen Augen spähte ich zum Tisch hinüber und vergewisserte mich, dass dort niemand saß.
    Delia war nicht da, wohl aber ihre Handtasche. In diesem Moment kam mir ein Gedanke. Ich brauchte ein paar Augenblicke, um ihren Schlüsselbund zu finden, den ich fest umschlossen hielt, damit die Schlüssel nicht klimperten. Dann schnappte ich mir noch ein paar von Moms Mini-Apfelmuffins und schlüpfte wieder in die Nacht hinaus. Mein Herz pochte vor Aufregung über meinen eigenen Wagemut.
    Ich blickte mich um und vergewisserte mich, dass mich niemand beobachtete, ehe ich mich in Delias Auto setzte. Es stank nach ihrem Parfüm, das ebenso widerwärtig war wie sie selbst. Und dann entdeckte ich das fast leere Glas von Grannas grüner Pampe auf ihrem Beifahrersitz.
    Miststück. Ich sollte ihren Wagen absichtlich zu Schrott fahren, wenn ich ihn nicht mehr brauchte.
    Ich steckte den Schlüssel ins Zündschloss und stellte mir vor, das Auto sei in eine schwere Decke gehüllt, die sämtliche Geräusche dämpfte. »Hübsch leise«, murmelte ich und drehte den Schlüssel um. Flüsternd erwachte der Motor zum Leben. Mit einem raschen Blick zum Haus vergewisserte ich mich, dass niemand etwas gehört hatte, und fuhr an.
    Hiermit breche ich ungefähr zehn verschiedene Gesetze.
    Als Ermunterung stopfte ich mir einen Muffin in den Mund.
    Sobald ich weit genug vom Haus weg war, schaltete ich dieScheinwerfer ein und fuhr in Richtung Schule. Delia hatte eines ihrer eigenen Alben im CD-Spieler, also drückte ich so lange auf Tasten und drehte an Knöpfen herum, bis ich einen Rocksender gefunden hatte. Ich brauchte die dröhnenden Bässe und jaulenden Gitarren, um mir Mut zu machen. Ich schob mir einen weiteren Muffin in den Mund und fühlte mich gleich besser, konzentrierter. Erst jetzt merkte ich, wie hungrig ich gewesen war. Ich musste gründlich nachdenken und Prioritäten setzen. Wenn man die übernatürlichen, lebensbedrohlichen Elemente mal beiseiteließ, war dies ein Problem wie jedes andere, vor dem ich schon gestanden hatte: ein extrem schwieriges Schulprojekt, ein Musikstück, das sich beim besten Willen nicht zähmen lassen wollte, eine Spieltechnik, bei der sich mir die Finger verknoteten. All diesen Problemen war ich zu Leibe gerückt, indem ich sie in kleine, überschaubare Schritte zerlegt hatte.
    Okay. Es war klar, dass ich der Königin gegenübertreten musste. Was wusste ich über sie? Nichts – außer, dass sie einerseits wie ich war, andererseits aber wie eine Fee, weil sie so lange unter ihnen gelebt hatte. Mit Appellen an ihr Mitgefühl brauchte ich es also gar nicht erst zu versuchen. Höchstens an ihre menschliche Natur, sofern davon noch etwas übrig sein sollte. Ich hatte keine Ahnung, wie ich das bewerkstelligen könnte. Ich stopfte mir noch einen Muffin in den Mund.
    Als ich in die kurze Zufahrtsstraße zum leeren Parkplatz vor der Highschool einbog, sah ich unter einer Straßenlaterne ein wild loderndes Feuer. In seinem flackernden orangeroten Schein brüllte ein gewaltiges schwarzes Tier und griff hochgewachsene, gertenschlanke Männer mit Hörnern an, die es quälten. Mit bloßen Händen griffen sie ins Feuer und bewarfen Körper und Gesicht des Tiers mit glühenden Kohlen. Ich spürte beinahe, wie dünn der Schleier zwischen meiner Welt unddem Feenreich geworden war – ich sah ihn förmlich vor mir, leise knisternd, so dünn und empfindlich wie Papier.
    Ich bremste. Die idiotische Stierkampfnummer spielte sich unmittelbar vor mir ab – ich würde aussteigen und etwas unternehmen müssen, wenn ich zur Schule gelangen

Weitere Kostenlose Bücher