Land der Mythen 01 - Unter dem Erlmond
befand, sondern mitten im Dunkelwald. Ja, er hatte nur schlecht geträumt und musste einige Stunden geschlafen haben, obwohl er das Gefühl hatte, dass er die Augen nur für einen kurzen Moment geschlossen hatte. Das Dunkel der Nacht war grauer Dämmerung gewichen, die spärlich durch das Geäst der Bäume sickerte, und nebliger Dunst hing zwischen den Bäumen.
»Steh auf!«, raunte Alphart ihm zu. In seiner Rechten hielt er den Bogen, auf dessen Sehne er einen Pfeil liegen hatte.
»Was…?«, wollte der Gilg ihn halblaut fragen, aber Alphart brachte ihn mit einem strengen Blick zum Schweigen.
»Lass alles liegen und komm mit«, wies Alphart ihn flüsternd an.
Leffel nickte nur und folgte dem Jäger ins Unterholz. Auf allen vieren kroch er durch fauliges Laub und war bemüht, so wenig Geräusche wie möglich zu verursachen. Sie erklommen den flachen Hang, an dessen Fuß sich ihr Lager befand. Bäuchlings schoben sie sich unter Farnblättern hindurch, bis sie freien Blick auf ihr Nachtlager hatten, wo noch die Decken und die Rucksäcke lagen.
Leffel hielt den Atem an. Er stellte keine Fragen. Alphart, der seine Augen zu schmalen Schlitzen verengt hatte, machte auch nicht den Anschein, Erklärungen geben zu wollen. Reglos lagen sie im feuchten Moos und warteten, bis sich bei ihrem Lagerplatz etwas regte. Der dumpfe Tritt von Pferdehufen war zu hören, dann teilte sich das Gebüsch, und eine Gestalt trat hervor, die einen goldgesäumten blauen Umhang trug, der sie als Mitglied der Stadtwache von Iónador auswies. Am Zügel führte der Unbekannte ein Soldatenpferd, das fortwährend schnaubte und mit den Vorderläufen unruhig den Boden pflügte. Das Tier schien die Bedrohung zu wittern, die in diesem Wald allgegenwärtig war.
Der Fremde, der die Kapuze seines Umhangs tief ins Gesicht gezogen hatte, schaute sich um. Dann zog er seine Handschuhe aus und prüfte, ob die Decken noch warm waren. Anschließend blickte er sich erneut suchend umher.
In diesem Moment sprang Alphart mit einem Satz auf, riss die Sehne seines Bogens zurück und zielte auf den Fremden.
»Halt!«, rief er laut. »Erkläre dich – oder mein Pfeil wird dich durchbohren!«
Der Fremde zuckte zusammen. Einen Augenblick lang stand er wie erstarrt. Dann griff der Iónadorer an die Kapuze und schlug sie zurück – und zu Alpharts und Leffels maßlosem Erstaunen kamen die Gesichtszüge einer jungen Frau darunter zum Vorschein, deren Anmut und Schönheit das Dunkel des Waldes ein wenig zu vertreiben schien.
»Wa-was hat das zu bedeuten?«, rief Alphart verblüfft. »Müssen die sauberen Herren von Iónador jetzt schon Frauenzimmer verpflichten, für sie zu kämpfen?«
Die Schöne betrachtete den Jäger mit prüfendem Blick. Vor seinem Pfeil schien sie sich nicht zu fürchten. »Du tätest gut daran, Wildfänger, deinen Bogen zu senken«, sagte sie gelassen. »Denn wenn du mich tötest, wirst du nie erfahren, was ich euch zu sagen habe.«
»So?« Alphart machte keine Anstalten, ihren Worten Folge zu leisten. »Und was hast du mir zu sagen, Weib? Wer bist du?«
Die Schöne warf den Kopf in den Nacken, und unbeugsamer Stolz sprach aus ihrem Blick. »Ich bin Prinzessin Rionna«, behauptete sie, »Nichte und Mündel Klaigons, des Fürstregenten von Iónador.«
Alphart ließ sich seine Überraschung nicht anmerken. Leffel hingegen, der neben ihm im Dickicht kauerte, verfiel in angstvolles Wimmern.
»Wenn es wahr ist, was Ihr sagt«, erwiderte der Jäger, »dann verratet mir mal, was eine Prinzessin an einem Ort wie diesem zu suchen hat, noch dazu in solchen Gewändern. Die Nichten von Fürsten treiben sich gewöhnlich nicht in dunklen Wäldern herum.«
»Damit magst du recht haben – aber ich habe euch zuliebe eine Ausnahme gemacht.«
»Uns zuliebe?«
»Ich bin euch gefolgt, den ganzen Weg von Iónador bis hierher. Eigentlich wollte ich bereits gestern Abend zu euch stoßen, aber bei Einbruch der Nacht habe ich eure Spur verloren. Also habe ich bis zum Morgengrauen abgewartet, um sie wieder aufzunehmen.«
»Ihr – Ihr habt im Wald übernachtet?« Leffel spähte aus seinem Versteck hervor – ein rundes Gesicht mit hochroter Nase, die im dunklen Farn zu leuchten schien. »Habt Ihr Euch denn nicht gefürchtet?«
»Nein«, entgegnete Rionna mit fester Stimme.
»Dann seid Ihr ziemlich töricht«, versetzte Alphart, äußerlich ungerührt, obwohl die Unerschrockenheit der jungen Frau auch ihn beeindruckte. »In diesem Wald wimmelt es von Gefahren.
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