Land der Mythen 02 - Die Flamme der Sylfen
zu sehen sein. Das Überraschungsmoment wäre verloren – und mit ihm jede Hoffnung auf den Sieg…
»Soll ich die Trommeln schlagen lassen?«
Barand spürte den bohrenden Blick Meinrads, aber er tat so, als hätte er die Frage überhört. Schon bei der Befehlsausgabe im Feldherrenzelt hatte der Herr von Kean d’Eagol die Ansicht vertreten, dass es im Zweifelsfall besser wäre, nicht abzuwarten, bis das Zeichen gegeben wurde, sondern gleich anzugreifen, ehe auch noch der letzte Vorteil vergeben war.
Aber noch wollte Barand warten. Ein Gefühl sagte ihm, dass er Galfyn noch ein wenig mehr Zeit geben musste, auch wenn er merkte, wie seine Leute mit jedem Augenblick nervöser wurden.
»Es wird immer heller«, ließ sich Meinrad erneut vernehmen. »Nicht mehr lange, und die Unholde werden die Katapulte auf dem Hügelgrat sehen.«
»Wir warten«, entgegnete Barand nur.
»Wenn wir sofort angreifen, könnten wir das Haupttor erreichen, ohne nennenswerte Verluste erleiden zu müssen.«
»Und was dann?« Barand wandte sich im Sattel um und bedachte seinen Unterführer mit einem warnenden Blick. »Die Mauern Iónadors haben nicht erst seit gestern Bestand. Mancher Feind ist an ihnen schon gescheitert.«
»Aber nicht wir! Wir kennen die Verteidigungsanlagen und wissen, was zu tun ist. Und unser Heer ist größer als jede andere Streitmacht, die zuvor…«
»Wir warten«, wiederholte Barand mit demonstrativer Ruhe.
»Aber…«
»Wir warten«, sagte er noch einmal, und diesmal betonte er die Worte so, dass sie keinen Widerspruch mehr zuließen.
Meinrad von Kean d’Eagol verstummte, und auch die anderen Unterführer schwiegen. Die Waldkrieger vertrauten ihrem Anführer offenbar bedingungslos – was seine eigenen Leute betraf, so musste Barand seine ganze Autorität aufbringen. Und das, obwohl auch seine eigenen Zweifel immer größer wurden.
Tief in seinem Inneren war Barand nur zu bewusst, dass Meinrad recht hatte und dass sie verloren waren, wenn der Feind sie entdeckte. Aber der Herr von Falkenstein rief sich immer wieder die Worte des Druiden Yvolar ins Gedächtnis, der ein ums andere Mal erklärt hatte, dass dieser Kampf, dieses letzte Gefecht um das Schicksal der Welt, nur dann siegreich entschieden werden konnte, wenn die Völker Allagáins gemeinsam handelten, Hand in Hand – und dazu gehörte, dass sie sich aufeinander verlassen konnten.
Natürlich fiel es auch Barand schwer, sowohl sein Schicksal als auch das seiner Leute in die Hände eines Mannes zu legen, der noch vor Kurzem ihr Todfeind gewesen war. Aber immer dann, wenn seine Zweifel zu obsiegen drohten, erinnerte er sich, dass Galfyn und er das gleiche Wappentier trugen. Vielleicht war dieser scheinbare Zufall tatsächlich eine Art Omen, eine Ermahnung, einander zu vertrauen.
Nichts anderes hatte Barand vor.
Er würde warten.
Bis zum bitteren Ende…
Wie schon so viele Male griff er sich an den Waffengurt und überprüfte den Sitz seines Schwerts. Dann richtete er sich im Sattel auf, um seinen Leuten zu zeigen, dass er, Barand, nicht im Geringsten zweifelte und das Zeichen zum Angriff jeden Augenblick erwartete und…
Und im nächsten Augenblick erfolgte es tatsächlich!
Ein brennender Pfeil stieg fast senkrecht in den nachtgrauen Himmel, um einen steilen Bogen zu beschreiben und dann wieder nach unten zu stoßen. Dieser Pfeil war das erlösende Signal. Ein Ruck ging durch die Reihen der Streiter.
»Zum Angriff!«, rief Barand, der spürte, wie heiße Kampfeslust in seine Adern schoss. Er klappte das Helmvisier nach unten, riss das Schwert aus der Scheide und stieß es lotrecht in die Höhe. Gleichzeitig ließen die Knappen das Pferd los, und der stolze Rappe preschte voran.
»Für das Leben und die Freiheit!«, brüllte Barand aus Leibeskräften, während sein Tier den verschneiten Hang hinaufstürmte, gefolgt von Meinrad und den anderen Rittern des Reiches, deren Banner an den Lanzen flatterten. Sein Schlachtruf wurde aus Tausenden von Kehlen beantwortet, wobei jeder der Waldclans seine eigene Losung hatte, mit der sich seine Angehörigen Mut machten für den bevorstehenden Kampf. Barand war es einerlei. Was sie in dieser Nacht vereinte, waren nicht Parolen, sondern die bittere Notwendigkeit…
Schnaubend galoppierte der Rappe die Anhöhe hinauf und erklomm die Hügelkuppe, und zum ersten Mal hatte Barand freien Blick auf die Stadt, die zu beschützen er feierlich geschworen hatte und die anzugreifen er im Begriff war. Die weißen
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