Land der Schatten - Andrews, I: Land der Schatten
Atem an.
Die Wurzeln wichen aus und öffneten einen schmalen Pfad zu der Blume.
Er betrat ihn.
Die Hände der Leiche öffneten sich und offenbarten eine eingefallene Brust und magere Hautlappen, wo einmal Brüste gewesen waren. Die blauen Augen folgten seinen Bewegungen. Jünger, mit ein bisschen Speck auf den Wangen und glatter Haut. Und wenn sie blond wäre …
»Genevieve«, flüsterte er, hustete einen Mundvoll Pollen aus dem Hals.
Sie streckte die Hand nach ihm aus. Er nahm ihre eisigen Finger. Die gleiche rötliche Flüssigkeit, die durch die Gefäße der Blütenblätter und Blätter floss, bahnte sich ihren Weg durch ihren Oberkörper und ließ die Adern unter ihrer fast durchsichtigen Haut hervortreten.
Sie öffnete den Mund. Eine Welle der Magie schlug ihm entgegen. William kniete nieder, schnappte nach Luft. Vor seinem geistigen Auge erschien flimmernd Cerise. Ihr Schwert zerlegte Embelys’ erschlafften Leib und schnitt Kaldar los. Also war sie im Haus. Dann blinzelte er, und die Vision verschwand.
Genevieves Mund verzerrte sich, um ein Wort herauszubringen. Williams Augen brannten von den Pollen, die als Schneegestöber winziger Pulversterne über ihnen in der Luft herumschwirrten. Sie setzten sich in Mund und Nase, kratzten ihn im Hals. »Bevor …«, hauchte Genevieve. »Meine Tochter …«
Ihre Peitsche schwang Richtung Schreibtisch und zog sich wieder zurück, wand sich mit der Zartheit einer Liebkosung über seiner Schulter. Dann fiel ihm ein in Leder gebundenes Journal vor die Füße.
»Keine Wahl … sie haben …«
»Sie weiß es«, sagte er ihr. »Cerise weiß es.«
»Sag Sophie … so leid …«
»Das werde ich.«
Sie drückte seine Hand. »Töte mich … bitte … Damit Ceri … mich nicht so …«
Das Messer in seiner Hand wog schwer wie Blei. Er hob es trotzdem.
Sie lächelte. Ihr fragiles, knochiges Gesicht, ihre eingefallenen Wangen, ihre in Leid versunkenen Augen, all das erhellte sich, vereint und verwandelt von diesem kleinen Lächeln, strahlend und zeitlos. William wusste, dass er sich sein Leben lang daran erinnern würde.
Er holte aus. Die Klinge fuhr sauber durch ihr Fleisch. Ihr Kopf fiel und rollte über den Boden, der Halsstumpf entließ einen Blutstrom. Er ergoss sich über die Bodenbretter, und sofort streckten sich die Wurzeln danach. Die Pusteln pumpten, saugten die Flüssigkeit, während sie noch aus der Halswunde strömte, in einem kannibalischen Kreislauf auf.
William hob das Journal auf.
Der Kopf lag auf der Seite. Sie lächelte immer noch, ihre blauen Augen waren auf ihn gerichtet. »Danke«, bildeten die blutleeren Lippen.
Die Pollen verstopften seine Lungen, beraubten ihn seiner Kraft. William stemmte sich hoch und wankte zur Tür, halb blind, stolpernd, erschöpft und schwach. Seine Hand fand den Türgriff, und er legte sich mit seinem ganzen Gewicht darauf. Die Tür gab nach, und er stürzte in den Korridor. Der kühle, glatte Holzboden schlug ihm gegen die Wange.
Die Tür.
William zog sich hoch, schloss zu und ließ sich dagegen sinken. Seine Lungen brannten. Letzte Pollenwölkchen hüllten ihn ein.
William konzentrierte sich auf das Heben und Senken seiner Brust. Seine Hände blätterten selbsttätig das Journal auf. Lange kursive Linien füllten die Seiten, allerdings zu verschwommen. Er rieb sich die letzten Tränen aus den Augen und führte das Journal so dicht vor die Augen, dass die Seiten beinah seine Nasenspitze touchierten.
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Gestammel. Nein, kein Gestammel, ein Kode.
Schnelles Trappeln von Schritten hallte durch den Korridor. Er ließ die Hände an die Seiten sinken, sodass das Journal neben seinem Bein zum Liegen kam.
Cerise bog um die Ecke, hinter ihr Richard. Sie raste auf ihn zu.
»Bist du verwundet?«
William schüttelte den Kopf, versuchte ihr zu sagen, dass er okay sei, aber die Worte wollten einfach nicht rauskommen. Also ließ er das Journal in ihre Hände fallen. Langsam zeichnete sich Verstehen in ihrem Gesicht ab. Sie wurde leichenblass und wollte an ihm vorbei. »Lass mich durch.«
»Nein«, krächzte er. Endlich kam seine Stimme zurück.
»Ich muss sie sehen.«
»Nein.« Das wollte sie nicht. »Es ist vorbei.«
Richard griff nach ihrer Schulter. »Er hat recht. Das war’s.«
»Lasst mich zu meiner Mutter!«
Sie riss sich los, aber Richard hielt sie fest. »Es ist vorbei. Es ist alles vorbei, und sie hat jetzt Ruhe. Verdirb dir nicht
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