Land der Schatten - Andrews, I: Land der Schatten
von der Unterseite des Armbands und fädelte sie über Zeige-, Mittel- und Ringfinger und spreizte sie. Nun drehten sich die Röhren um sein Handgelenk wie die Kammern eines Revolvers. Wenn er das Handgelenk beugte und den Handrücken nach vorne drückte, feuerte der unterste Lauf und spie eine winzige, mit einer Nadel geladene Patrone aus. Sie enthielt genug Schlafmittel, um einen großen Mann binnen drei Sekunden in Tiefschlaf zu versetzen.
Eine elegante Waffe. Er würde das Spielzeug des Spiegels vermissen, wenn das hier vorbei war.
Der Verräter würde Richtung Moor aufbrechen. Davon war William überzeugt. Erstens hatte er längst herausgefunden, dass nichts, das in Hörweite der Mars geschah, privat blieb; zweitens hatte Lark von einem Monster im Wald gesprochen. Cerise hatte gesagt, Lark sei das Monster, doch er war sich nicht sicher, was sie damit gemeint hatte. Vielleicht hielt sich die Kleine ja selbst für ein Monster, andererseits mochte sie aber auch etwas gesehen haben, das sie ihrer Schwester nicht zu erklären vermochte. Einige Agenten der Hand waren verändert genug, um einem Erwachsenen Albträume bereiten zu können, ganz zu schweigen von einem Kind. Und wenn Lark im Wald auf ein seltsames, unheimliches Geschöpf gestoßen war, dann wollte er damit Bekanntschaft machen.
Sein Plan klang denkbar einfach: Er würde sich auf die Lauer legen, den Verräter identifizieren, sobald er (oder sie) in die Wälder aufbrach, und ihm dann zu den Überraschungen auf der anderen Seite nachgehen. Vielleicht konnte er den Agenten der Hand einholen und ihm zu dem finsteren Loch folgen, das Spider im Sumpf als seinen Unterschlupf beanspruchte.
Vielleicht gab er sich dem Agenten der Hand ja sogar zu erkennen, dachte William. Dann würden sie ein Wörtchen miteinander zu reden haben. Womöglich gab es auch den einen oder anderen gebrochenen Knochen. Er gluckste leise.
Lautlos glitt das Fenster auf. Er huschte auf den langen Balkon, kauerte sich hin und verschwand im tiefen Schatten vor dem Geländer.
Der Mond tauchte hinter Wolkenfetzen unter und wieder auf. In der Ferne ließ sich faul brüllend ein alter Alligator vernehmen. Der Wind roch nach Wasser und dem Mimosenduft der Nachtblüten.
Seit seiner letzten Jagd war einige Zeit vergangen, und die Nacht rief ihn.
Unter ihm, jenseits des Geländers, lag verlassen der Hof. William hockte ruhig, stumm und geduldig.
Die Minuten zogen sich wie Honig.
Ein vages Zittern lief durch die Zypressenzweige links. Ein Junge mit einem Gewehr. Nicht älter als zwölf.
Dann eine weitere Bewegung rechts. Eine junge Frau in den Kiefern. Dem Abstand zwischen den Bäumen nach zu urteilen, gab es auf der anderen Seite des Hauses wahrscheinlich einen dritten Ausguck. Alle drei beobachteten das Moor. Keiner von ihnen sah ihn.
Vor ihm fiel dumpf eine Tür ins Schloss.
Er huschte den Balkon entlang, hielt sich im Schatten und ging abermals vor dem Geländer zu Boden. Von hier aus konnte er einen schmalen Ausschnitt des vorderen Balkons sowie einen Großteil der Treppe erkennen.
Bedächtige Schritte, gefolgt von einem kaum hörbaren zweiten Paar Füße, deren Tritt er inzwischen zur Genüge kannte: Kaldar. Puh!
Der Wind trug ihm ihre Gerüche zu. Ja, Kaldar und Richard. Die beiden standen auf seiner Liste möglicher Verräter ohnehin ganz oben. Kaldar besaß das Gepräge eines Mannes, der ständig Geld brauchte und niemals genug bekam. Und die Hand zahlte gut. Falls sie ihre Mietlinge nicht vorher ermordete.
Richard stand auf einem anderen Blatt. William hatte Catherine in der Bibliothek ein Loch in den Bauch gefragt und den ganzen Abend lang dem Geplapper der Familie zugehört, bis er sich den kompletten Stammbaum zusammenreimen konnte: Großmutter Az hatte sieben Kinder, von denen Alain Mar das Älteste war. Alain wiederum hatte drei Kinder: Richard, Kaldar und Erian. Als die Sheeriles Alain auf dem Marktplatz erschossen, war Richard siebzehn, Kaldar vierzehn und Erian erst zehn. Damals übernahm Cerises Vater Gustave die Zügel. Und Cerises Eltern nahmen Erian auf, weil seine Brüder noch zu jung waren, um sich um ihn zu kümmern.
Richard roch wie ein geborenes Alphamännchen. Rational, ruhig, geachtet, soweit William das beurteilen konnte. Alle blickten zu ihm auf. Auch Cerise. Aber nicht Richard hatte das Sagen, sondern Cerise. Warum?
Er hielt Richard für den Verräter. Cerises Verwandtschaft bestand weitläufig aus ihren Vettern und Cousinen, deren Kindern sowie
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