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Land des Todes

Land des Todes

Titel: Land des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison Croggon
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behauptet, es handle sich bloß um Scharlatane, die den dummen und abergläubischenBauern Angst einjagten. Doch jegliche Zweifel, die ich gehabt haben mochte, waren in dem Augenblick verflogen, als der Zauberer Ezra mich angesehen hatte. Ich erinnerte mich an die Geschichten darüber, dass sie die Knochen eines Menschen in Wasser oder sein Mark in heißes Blei verwandeln konnten, auf dass er langsam unter grässlichen Qualen starb. Plötzlich empfand ich das alles als nicht mehr so weit hergeholt. Nachdem meine Mutter mich zu Ende gerügt hatte, kehrte ich in die Küche zurück und schälte weiter Rüben. Fragen brannten mir auf der Zunge, aber ich wusste schon damals, dass sie mir niemand beantworten würde.
III
    Es verstrichen noch einige Tage, bis der Master eintraf, und ich erinnere mich daran, dass es in dieser Zeit fast ständig regnete. Zudem wogten große, dichte Nebelschwaden aus dem Hochland herab, sodass man manchmal den ganzen Tag lang keine sechs Schritte weit aus dem Fenster sehen konnte. Ein kleiner Junge, der Ziegen hütete, verirrte sich sogar auf den Ebenen und erfror. Ich glaube, meine Mutter empfand den Regen als Erleichterung, denn so konnte Lina nicht nach draußen und in Schwierigkeiten geraten. Gleichzeitig jedoch bedeutete es, dass sie uns fortwährend um sich hatte. Sie hatte so viel zu tun, dass sie barsch mit uns umsprang, weshalb wir versuchten, ihr aus dem Weg zu gehen.
    Lina brannte vor Ungeduld, ihren Vater zu sehen. Jedes Mal, wenn sie Schritte oder Hufgeklapper vernahm, flog sie förmlich zum Fenster, und jeden Morgen verkündete sie, dass er an diesem Tag endgültig kommen werde. Jeden Abend ging sie matt vor Enttäuschung zu Bett und sorgte sich, dass er sich im Nebel verirrt haben und an Kälte gestorben sein könntewie der Ziegenjunge. Ihre Ungeduld steckte auch mich an, und in meiner freien Zeit machten wir ein Spiel daraus, ins vordere Zimmer zu rennen, wenn wir uns ein Geräusch auch nur einbildeten. Meine Mutter trieb das alles zur Raserei. Sie hatte den Haushalt zu ihrer Zufriedenheit eingerichtet und verbrachte neben der Arbeit viel Zeit mit ihren Verwandten, die sie seit neun Jahren nicht gesehen hatte. Es gab eine Menge Neuigkeiten – die meisten davon empfand ich, wenn ich, zum Zuhören verdammt, in der Küche saß und Karotten putzte, als äußerst langweilig. Dazu gehörte, wer gestorben und wer geboren worden war, wer geheiratet und wer das kleine Feld unten im Süden des Dorfes gekauft hatte, oder wie die alte Wanda letztlich den Verstand verlor und fortwährend mit den Schafen auf der Straße redete, die sie für ihre toten Brüder hielt, und so weiter.
    Dann plötzlich verschwanden die Wolken eines Morgens, der frisch und strahlend graute, sodass die von den Knospen der kahlen Haseln hängenden Regentropfen wie die Edelsteine eines Königsschatzes funkelten. Zum ersten Mal seit unserer Ankunft konnte man in der Ferne die Berge sehen. Ich ging hinaus und starrte sie an: Sie wirkten schwarz und abweisend, und ihre Gipfel ragten so steil und gefährlich in den Himmel wie die Stahlmesser in der Küche. In jenem Moment erinnerte ich mich daran, dass ich eine geborene Hochländerin war, und ich fühlte die harten Gebeine dieses Landes unter meinen Füßen und den hohen, fahlen Himmel über mir. Da wusste ich, ob gut oder schlecht, dies war mein Heimatland, hier gehörte ich her.
    Beim Frühstück verkündete Lina voller Zuversicht – wie schon davor tagtäglich –, dass ihr Vater an diesem Tag eintreffen werde. Diesmal sollte sie recht behalten: Er kam spät an jenem Nachmittag, als es wieder zu regnen begonnen hatte und sich die Schatten zum Einbruch der Nacht hin verdichteten. Bei Lina bahnte sich gerade ein Wutanfall der Enttäuschung an – sie suchte Streit mit mir, piesackte mich, während ich versuchte, meine Arbeiten zu verrichten, und ging allen auf die Nerven. Dann hörte sie, wie sich ein Pferd dem Haus näherte, gefolgt von einem Klopfen an der Tür. Mit vor freudiger Erregung strahlender Miene sprang sie auf und eilte zur Tür, während meine Mutter ihr händeringend folgte und sie aufforderte, sich zu benehmen. Lina riss schwungvoll die Tür auf und taumelte auf der Schwelle, wie benommen vor Enttäuschung. Statt ihres Vaters stand ein Junge davor, eingehüllt in einen Mantel, um sich vor dem frostigen Regen zu schützen.
    »Wer bist du?«, fragte Lina barsch. »Und wo ist mein Vater?«
    Der Junge starrte sie verdrossen an und antwortete nicht. Dann

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