Land des Todes
überzeugen, dass es guten Grund gab, den Zauberer Ezra zu fürchten. Rückblickend vermute ich, dass man die Vollstreckung ohne Weiteres für Lord Kadar arrangiert haben mochte, um ihm vor Augen zu führen, wie gefährlich es sein konnte, sich dem Willen eines Zauberers zu widersetzen. Es war kurz nach diesem Zwischenfall, dass der Master einen Lehrer einstellte und uns mitteilte, er schäme sich für die Unwissenheit und ungeschliffenen Manieren seiner Mündel.
Der Lehrer, Herr Herodias, erwies sich als gute Wahl. Er war ein groß gewachsener Mann mit schmalen Lippen und einem Kneifer, in Wirklichkeit jedoch ein rechter Stutzer. In unserem Dorf bot er jedenfalls einen exotischen Anblick, wenn er mit seinen polierten Stiefeln, seinem bestickten Wams und seinem sorgsam gefalteten Halstuch seinen regelmäßigen Sonntagsspaziergang antrat. Allerdings verbarg sich hinter seinem unmännlichen Auftreten ein eiserner Wille, den zu beugen selbst die Tochter des Hauses Mühe hatte. Linas Schmollen und Drohungen prallten von ihm ab, für ihren Charme war er unempfänglich, und es gelang ihr nie, ihn zu täuschen. Sie war eindeutig die Schwierigste seiner Schutzbefohlenen: Damek konnte man als schwerfälligen Schüler bezeichnen, weder begeistert noch aufsässig, und ich war unverhohlen fleißig, was mir allerlei Spott von Lina einbrachte.
Ruhig und nüchtern und mit einer Rute auf dem Pult, die er nicht zu benutzen zögerte, machte sich Herr Herodias daran, selbst den störrischsten Schülern Bildung einzubläuen. Er wohnte in einem kleinen, aber gemütlichen Häuschen im Dorf und lief jeden Morgen zu Fuß zum Roten Haus, wobei er seine Rute rings um die Beine schwang. Am Ende jedesTages kehrte er gemächlich zurück, um zu essen. Jeden Abend verbrachte er mit Schreiben, wenngleich wir nie herausfanden, was er da eigentlich verfasste; Gerüchten zufolge war er Naturforscher und fertigte eine Abhandlung über Schmetterlinge an, aber ich habe nie erfahren, ob das stimmte.
Seine Anwesenheit verlieh unserem Leben in jenem Sommer eine gewisse Struktur, die ich für meinen Teil zugleich anregend und tröstlich fand. Wenngleich uns allen irgendwann einmal das Alphabet beigebracht worden war, saß unser Unwissen tief. Wie ich bereits sagte, die zwei Jahre, die Herr Herodias in Elbasa verbrachte, zähle ich zu den kostbarsten Geschenken meines Lebens. Er eröffnete mir die Welt der Bücher, und die Bücher versetzten mich in die Lage, meine Wissenslücken zu schließen. Ich habe seine Ausbildung mein ganzes Leben lang fortgesetzt. Manchmal frage ich mich, ob dieser seltsame, nüchterne Mann wusste, was er mir zum Geschenk machte; und wenn ich zurückdenke, bin ich manchmal sicher, dass er es wusste.
Aus diesem Grund ist mir dieser Sommer als glückliche Zeit im Gedächtnis geblieben. Aber es ist eine gänzlich selbstsüchtige Erinnerung, denn würde man das besagte Jahr den anderen Leuten im Dorf gegenüber auch nur erwähnen, würde man erleben, wie sie erschaudern und sich bekreuzigen.
Es war das Jahr, in dem die Vendetta Einzug hielt.
VI
Weil ich eine Frau bin, zählt das, was ich sage, auf der Welt nur wenig. Dennoch beobachte ich und mache mir meine Gedanken. Wenn ich wenig sage, liegt das keineswegs daran, dass ich nichts zu sagen hätte. Eine kluge Frau, so lautet hier ein Sprichwort, hält sich stets bedeckt. Würde ich meine Gedanken frei aussprechen, wäre das Grund genug für einen Fluch, der über mich ausgesprochen wird, oder für eine Klinge, die mir die Kehle aufschlitzt.
Die Menschen hier halten die Vendetta für das Kernmysterium des Plateaus: Aus Stolz und Angst wagt niemand, etwas anderes zu behaupten. Es käme einer Verleugnung unserer eigenen Seelen gleich. Die Blutrache bildet gleichsam das Herz unserer Ehre. Hier im rauen Norden, wo es für die meisten Menschen das hehrste Ziel darstellt, der Erde den Lebensunterhalt abzuringen, besitzt ein Mann ohne Ehre gar nichts.
Hält die Vendetta Einzug in ein Dorf, so ist das eine Katastrophe, schlimmer als Überschwemmungen oder Feuersbrünste, schlimmer als ein Sturm, der von den Bergen herabfegt und Bäume, Mauern und Häuser umherwirbelt, als wären sie das Spielzeug eines Kindes. Die Vendetta ist eher wie eine Seuche. Statt kurz und heftig zu wüten, um alsdann die Überlebenden in Frieden zurückzulassen, auf dass diese ihre Toten betrauern und begraben, bleibt sie unterschwellig für Jahre, ja, für Jahrzehnte oder gar für Jahrhunderte ansteckend.
Die
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