Land des Todes
Vendetta ist eine tödliche Krankheit des Blutes, die langsam, aber unausweichlich ganze Familien zerstört, ganze Klans, ganze Dörfer. Ich bin sicher, Sie sind schon durch einige der Weiler gekommen, in denen die Blutrache ihr Zerstörungswerk angerichtet hat, bis niemand übrig blieb: Die Felder sind wieder zu Wildnis verkommen, voll von hüfthohem Unkraut, wo einst Getreide und Gemüse gediehen; die Steinmauern sind verfallen und bröckelig, weil niemand mehr sie instand hält; die Häuser stehen leer, ihre Dächer stürzen ein; das Kopfsteinpflaster ist rissig, weil Schösslinge es sprengen; der Wind und der Regen sind die einzigen Gäste. Übrig ist vielleicht nur noch eine wahnsinnige Greisin mit ihren Hühnern und einer dürren Ziege, die hartnäckig verweilt, weil sie sonst nirgendwohin kann.
Die Vendetta gleicht einer schwarzen Ranke, einem Parasiten, dessen einzige Hinterlassenschaft Gräber sind. Allerdings ist sie ein abgefeimtes Raubtier: Herrschte auf dem gesamten Plateau die Vendetta, bliebe niemand übrig, den sie verschlingen könnte, und die Vendetta selbst stürbe aus. Und so legt sie stattdessen eine Saat hier, eine andere dort – nie zu viel, nie zu wenig. Im Verlauf der Jahrhunderte hat die Blutrache kein Dorf verschont, hat überall ihre Ernte eingeholt, sich ihren Zehnt des Todes genommen; und doch sind es immer nur einige wenige, die leiden.
Der Tod durch die Blutrache ist ein besonderer Tod. Die Vendetta ist kein Unfall, bei dem ein Mann auf einem Gebirgshang abrutscht und in die Tiefe stürzt oder von einer Natter gebissen wird oder bei dem ein Kind sich des Winters im Schnee verirrt und erst Tage später gefunden wird, seinen Stab umklammernd, das Gesichtchen blau und eisig. Er ist ein Ehrentod, und der Haushalt eines Mannes wird danach beurteilt, wie er sich seinem Schicksal stellt. Er bildet den Mittelpunkt des Brauchtums und dessen Rituale, und er steht hinter der Befehlsgewalt der Zunft der Zauberer. Der Grund, weshalb sich Menschen aus dem Norden nie über die Vendetta beschweren, wiewohl sie eine Katastrophe ist, vor der uns graut, die wir fürchten, ist dieser: Sie ist ebenso sehr ein Teil von uns wie der Boden unter unseren Füßen, wie das Kommen und Gehen der Jahreszeiten. Ein Wort gegen die Vendetta kommt Blasphemie gleich, so als wende man sich gegen den Willen Gottes.
Die rechtlichen Aspekte der Vendetta werden von den Zauberern verwaltet. Ich bin sicher, Sie wissen, dass die Zauberer von Dorf zu Dorf reisen, das Brauchtum durchsetzen und Streitigkeiten nach dem Buch der Wahrheit schlichten, das jeder von ihnen bei sich trägt. Sie leben bescheiden, verschmähen weltlichen Reichtum und verbringen die Zeit vorwiegend damit, kleine Meinungsverschiedenheiten beizulegen – beispielsweise, ob ein Mann die Ziege eines anderen gestohlen hat, oder ob eine Grenze einen Meter näher an einem Flussverläuft, als es ein anderer Mann behauptet. Strafen, wie sie der unglückselige Oti erfuhr, wurden selten verhängt, doch allein die Furcht davor festigte den Gehorsam gegenüber den Zauberern. Ich bin sicher, sie haben noch andere Pflichten, die jedoch niemandem außerhalb ihres Ordens bekannt sind: Sie halten ihre Ränge geschlossen, und wer Geheimnisse ihrer Magie preisgibt, ist mit dem Tode zu bestrafen.
Es gibt Vieles, was ich nicht weiß – zum Beispiel, worin der Bund zwischen den Zauberern und der Königsfamilie besteht. Dann ist da noch der ständige Krieg zwischen der Kirche und den Zauberern – beide haben starke Ansprüche an das königliche Haus und kämpfen eifersüchtig um dessen Aufmerksamkeit. Die Priester halten die Zauberer für Gottlose, die Zauberer wiederum halten die Priester für Hochstapler, die dem Norden durch ein Edikt aus dem Süden aufgezwungen wurden. Letztere Behauptung enthält genug Wahrheit, um zu gewährleisten, dass der Kirchbesuch im Norden eher als gesellschaftliche Pflicht empfunden wird, während wahre Gottesfurcht den Zauberern vorbehalten ist. Auf dem Plateau wird christliche Frömmigkeit, ich bitte um Verzeihung, als Zeichen von Treulosigkeit bewertet, obwohl es im Schwarzen Land wohl kaum eine Seele gibt, die am Zorn Gottes oder an den Qualen der Hölle zweifeln, die sich nicht aus Angst vor dem Teufel bekreuzigen oder am Sterbebett nicht nach der Letzten Ölung rufen würde.
Ich überlasse es Ihnen selbst, über diese Widersprüche nachzugrübeln. Manch einer verhöhnt die Bewohner des Nordens als Heiden und Ungläubige, aber das
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