Land des Todes
vorstellen können. Allerdings gestand man durchaus auch ein, dass Lina das schönste Mädchen war, das man je in Elbasa gesehen hatte, und in Tibor Alcahils Augen wog dies all ihre Nachteile auf. Vermutlich wirkten Linas Reize zudem auf ihren künftigen Schwiegervater, denn er erhob keine Einwände gegen die Verbindung. Und es schien, als hätte Linas neue Sanftmut all die Schande ausgelöscht, den ihr Ruf, eine Hexe zu sein, über die Familie gebracht hatte. Niemand sprach mehr davon.
Mich erleichterte, dass Tibor Lina liebenswürdig und respektvoll behandelte und dass sie ihn aufrichtig mochte. Es war zwar keine leidenschaftliche Verbindung, aber das empfand ich nicht als schlimm. Die meisten Ehen im Norden zwischen einflussreichen oder wohlhabenden Familien werden als Bündnisse zwischen Klans geschlossen, oder um den einen oder anderen Vorteil zu erlangen. Die Gefühle der Braut und des Bräutigams werden dabei selten berücksichtigt. Und doch haben solche Verbindungen wahrscheinlich eine ebenso große Chance auf gemeinsames Glück wie andere, und vielleicht sogar eine noch größere als jene, die in der Hitze der Leidenschaft eingegangen werden. Mir ist bewusst, dass dies bestürzend für Sie sein könnte, zumal es im Süden als fortschrittlich gilt, anders über die Liebe zu denken. Aber in meinen Augen wird Freundschaft als Grundlage für eine Ehe unterbewertet. Jede Frau, die bei einem Mann Freundschaft findet, kann sich glücklich schätzen. Sie reicht genauso tief wie Leidenschaft – nein, tiefer – und ist ein solides Fundament, auf dem man ein Leben aufbauen kann.
Ich hatte den Eindruck, dass Lina nun Aussicht auf ein materiell wie geistig angenehmes Leben hatte, was noch wenige Jahre zuvor unmöglich gewesen zu sein schien. Und, wichtiger noch, sie galt nicht mehr als Ausgestoßene. Ich freutemich über diese Wende der Ereignisse und machte mich bereitwillig an die Vorbereitungen für die Vermählung.
XVIII
Lina und Tibors Hochzeit wurde der Höhepunkt jenes Sommers, und die Feierlichkeiten erstreckten sich – dank der Großzügigkeit des Königs – über drei Tage; eine wahre Orgie von Festmahlen, Trinkgelagen, Tanz und Ansprachen.
Die Dörfler, die allesamt bestrebt waren, Elbasa von seiner besten Seite zu präsentieren, waren zufrieden, dass unsere Ehre gewahrt geblieben war, und die Alcahil-Gäste erwiesen sich im Austausch von Höflichkeiten als ebenso großzügig wie das Haus Kadar im Hinblick auf seine Gastfreundschaft.
Fast einhundert Personen drei Tage lang zu bewirten, ganz zu schweigen vom Umgang mit den Musikern, Tanzmeistern, Geistlichen, Zauberern und Adeligen – und insbesondere zu gewährleisten, dass die Sitzordnung den Rang eines jedes Gastes berücksichtigte – war keine einfache Aufgabe. Zu meiner Erleichterung beschloss Masko, Elbasa für die Zeremonie zu verlassen, sodass es mir erspart blieb darüber nachzugrübeln, wohin ich ihn setzen sollte. Ich verspürte all den Stolz einer schwierigen, allen Widrigkeiten zum Trotz gemeisterten Aufgabe, und nachdem der letzte Gast abgereist war, prostete ich mir selbst mit dem Rest des Ratafia-Likörs zu, bevor ich erschöpfter ins Bett fiel, als ich es je zuvor im Leben gewesen war.
Meine tiefste Sorge galt Lina selbst. Sie brachte den Hochzeitsvorbereitungen eine verwirrende Teilnahmslosigkeit entgegen: Wenn ich mich mit dem einen oder anderen Problem an sie wandte, schwenkte sie nur lustlos die Hand und meinte, ich solle mich nach meinem Ermessen darum kümmern. Jenäher der große Tag rückte, desto mehr zog sie sich zurück und desto launischer wurde sie. Lina verspürte eindeutig eine Beklommenheit, wollte mir jedoch den Quell ihres Unbehagens nicht anvertrauen. Sie sprach sogar davon, die Hochzeit abzusagen, und das mit solcher Niedergeschlagenheit, dass ich sie trotz meiner besten Bemühungen nicht aufzumuntern vermochte. Sie verlor weiter an Gewicht, was sie sich kaum leisten konnte, und wies die äußeren Anzeichen schlafloser Nächte auf. Ich nutzte unsere Vertrautheit, um mich danach zu erkundigen, was sie plagte – in der Hoffnung, das Geständnis würde ihr Erleichterung verschaffen –, aber sie weigerte sich, zu antworten. Ich dachte, es läge an den natürlichen Ängsten, die eine junge, mit dem Mysterium der Ehe konfrontierte Frau durchlebt, doch im Nachhinein betrachtet erkenne ich, dass es die panische Befürchtung war, die Hochzeitsnacht könnte offenbaren, dass sie keine unberührte Frau mehr war,
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