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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Holtkoetter
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mittleren Alter, angeführt von seinem palavernden und wild gestikulierenden Vater. Marius begriff, das mussten die neuen Großkunden aus Österreich sein. Er reagierte blitzschnell. Bevor einer der Männer ihn entdecken konnte, öffnete er die nächstbeste Tür und schlüpfte in den Kopierraum. Dort wartete er mit angehaltenem Atem, bis die Gruppe sich wieder entfernte. Erst als alles still war, zog er die Tür einen Spalt weit auf und lugte hinaus. Die Luft war rein.
    Eine schreckliche Vorstellung, völlig unvorbereitet auf die Kundengruppe zu stoßen. Sein Vater hätte ihn sofort lautstark ins Geschehen gezogen, und dann wäre es an Marius gewesen, sich nicht zu blamieren. Er gratulierte sich dazu, das im letzten Moment noch abgewendet zu haben. Um die Firma wollte er sich heute wirklich keinen Kopf machen. Eilig lief er zurück zum Wagen und atmete erleichtert auf, als er zum zweiten Mal vom Gelände fuhr.
    Zurück auf der Autobahn drückte er kräftig aufs Gas. Er spürte, wie die Anspannung langsam von ihm abfiel. Die Landschaft flog vorbei. Ein Gefühl von Freiheit stellte sich ein. So war das immer, wenn die Tachonadel in Richtung zweihundert wanderte. Als könnte er bei dem Tempo alles hinter sich lassen und ein neuer Mensch werden.
    In Münster angekommen ging es ihm erheblich besser. Trotzdem sehnte er sich nach Nathalie. Ihre Straße, das Mietshaus, ihre Wohnung, das alles war für ihn ein Refugium. Eine Gegenwelt zu seiner Familie und dem Unternehmen. Ein Ort, an dem er sich ausruhen und Kraft schöpfen konnte.
    Nathalie erwartete ihn bereits an der Wohnungstür. Sie hatte die Haare zusammengebunden und trug eine Kochschürze mit dem Aufdruck »Hier kocht der Chef«. Von drinnen wehte der Duft seiner Lieblingsspeise ins Treppenhaus: Sauerbraten mit Knödeln. Ein Geschenk für ihn. Sie streckte den Kochlöffel wie ein Schwert in die Luft und lächelte stolz. Als hätte sie damit den Sauerbraten erlegt. Offenbar war sie zufrieden mit sich und ihrer Arbeit.
    Doch als sie Marius’ Gesichtsausdruck sah, erlosch ihr Lächeln augenblicklich.
    »Was ist denn los?«, fragte sie.
    »Ach, nichts.« Er mühte sich ein Lächeln ab. »Ich bin nur froh, dass ich hier bin.«
    Er wollte nichts von Roland erzählen. Seine gestörte Familie sollte außen vor bleiben. Für ihn war heute eines klar geworden, deutlicher als je zuvor: Er musste von dort weg. So schnell wie möglich.
    Nathalie umarmte ihn, und er klammerte sich wie ein Ertrinkender an sie. Das einzig Wichtige war, mit ihr zusammen zu sein. Egal, in welche Stadt sie ziehen würden. Und wenn sie zum Mond flögen. Hauptsache, er wäre bei ihr.
    Die Stimme ihres Mitbewohners drang heraus.
    »Nathalie, komm doch mal schnell. Soll die Soße so aussehen? Ich glaub, ich hab’s versaut.«
    Sie löste sich aus der Umarmung und blickte fragend zu Marius auf.
    »Schon in Ordnung«, sagte er. »Wir reden später.«
    Sie gab ihm einen Kuss, nahm ihn an der Hand und zog ihn in die Wohnung hinein. In der Küche stand Mikey, ihr Mitbewohner, am Herd und rührte angestrengt in einem Topf herum. Ein Kunststudent im zwölften Semester, der sich mehr aufs Nachtleben als aufs Studium verstand. Er trug eine alberne Kochschürze, auf die ein nackter Frauentorso aufgedruckt war. Seine riesige Designerbrille war vom Essensdunst beschlagen und ließ ihn wie ein Insekt aussehen.
    »Die Soße ist in Ordnung, du musst nur kräftig rühren«, wies Nathalie ihn an. Dann wandte sie sich an Marius: »Möchtest du einen Kaffee?«
    Er lehnte dankend ab und setzte sich an den Tisch. Eine Weile sah er den beiden beim Kochen zu, dann ließ er den Blick durch den Raum schweifen. Er betrachtete alles mit den Augen seiner Eltern. Bunt bemalte Sperrholzmöbel, Filmplakate an den Wänden, knallgrüne Vorhänge und ein billiger Kronleuchter mit Plastiksteinen. Er war ganz sicher: Sie würden es hier keine Minute lang aushalten.
    »Ist es okay, wenn ich kurz dusche?«, fragte er.
    »Natürlich. Du weißt ja, wo alles ist. Essen dauert eh noch ein bisschen.«
    Er nahm seine Tasche und ging hinüber in Nathalies Zimmer. Ein winziger Raum, der als Schlaf-, Wohn- und Arbeitszimmer diente. Trotz der Enge hatte Nathalie das Zimmer hübsch eingerichtet. Alles war in Weiß und Beige gehalten, eine Mischung aus Flohmarkt und IKEA, ein alter Sekretär, eine Vitrine mit antiken Teetassen und bergeweise farblich aufeinander abgestimmte Kissen. Es war ein schönes Zuhause, und es passte zu ihr. Doch auch hier würden

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