Last days on Earth: Thriller (German Edition)
befeuchtete seine Finger. Er hob es mit zitternder Hand und trank. Er verschluckte sich und hustete. Sein Kopf wurde langsam wieder klar.
»Besser?«, fragte Tora und nahm ihm das Glas ab. Er nickte.
»Du solltest nicht mehr über Brad nachdenken«, sagte Tora. »Die Schäden in deiner Substanz sind gravierend. Raoul, ich bitte dich sehr inständig: Falls dein Daimon zurückkehrt, lass ihn nicht ein!«
»Können wir das Thema beenden?«, entgegnete Raoul schroff.
Tora senkte den Kopf. »Ich gebe mich notgedrungen geschlagen«, erwiderte sie kühl. »Du bist erwachsen, du musst wissen, was du tust. Obwohl ich dir als Großmeisterin befehlen könnte …«
»Ich würde dem Befehl nicht Folge leisten«, unterbrach Raoul sie. »Tora-san, lass es gut sein. Ich weiß, was ich tue.«
»Weißt du das?« Sie hob die Hände und ließ sie resigniert wieder sinken. »Gut. Warum bist du gekommen?«
Er wusste es nicht mehr. Es war ein Impuls gewesen, die irrationale Hoffnung, Hilfe oder wenigstens ein mitfühlendes Wort bei seiner alten Lehrerin zu finden. »Es war dumm. Vergib mir, dass ich deine Zeit stehle, Tora-san. Ich verabschiede …«
»Bleib sitzen«, sagte sie scharf. »Du wirst mit der jungen Frau von der MID zusammenarbeiten, aber ihre Dienststelle besitzt nicht alle Informationen. Da dein Daimon gerade nicht zur Verfügung steht, werde ich sie dir übermitteln.«
»Du?«, fragte Raoul verblüfft.
»Ich«, erwiderte Tora und zog die Braue hoch. Sie griff wieder nach ihren Zigaretten. Raoul beugte sich vor, nahm das Feuerzeug und ließ es mit einem satten Klicken aufspringen. Tora bedankte sich geistesabwesend. Sie inhalierte und hielt den Atem an. Mit einer schnellen Handbewegung griff sie nach Raouls Kopf, und ehe er zurückzucken konnte, lagen ihre Lippen auf seinen, und kalter, nach Menthol und Zauber schmeckender Rauch drang in seinen Mund. Er füllte seine Mundhöhle aus, stieg in seine Nase und seine Augen, drang in seinen Kopf, seinen Hals, seine Gedanken und Erinnerungen, in die Leere, die Brad hinterlassen hatte. Information. Klares, kaltes, nüchternes Wissen. Es hatte nicht den heißen, vor Blut, Angst und rohen Emotionen triefenden Beigeschmack, der Brads Strom von Informationen begleitete und an den Raoul sich so sehr gewöhnt hatte, aber es war dennoch das, wonach er so sehr gierte. Information. Lebenssaft. Energie. Er sog sie auf wie ein Verdurstender, labte sich daran, sog noch das letzte Tröpfchen Nektar aus dem fremdartigen Datenfluss.
Dann nahm er die Außenwelt wieder wahr, aber sein Verstand begann sofort das Empfangene einzuordnen und würde damit auch noch eine Weile beschäftigt sein. Er ließ diesen Teil des Gehirns wie gewohnt arbeiten und wandte sich Tora zu, die wieder mit untergeschlagenen Beinen auf ihrem Kissen saß und ungerührt ihre Zigarette rauchte.
»Wie hast du das angestellt?« Wenn es so ging, wenn dazu kein Daimon nötig war, warum …
Sie schüttelte den Kopf, als hätte sie seine Gedanken gelesen. »Das kann ich niemanden lehren, Raoul.«
Er nickte mit zusammengebissenen Zähnen. Sie war der Roshi. Tora-san war unbestrittene und unangefochtene Großmeisterin des Schwarzen Zweiges und würde es wohl in alle Ewigkeit bleiben. Niemand wusste, wie alt sie war, obwohl sie gelegentlich darauf bestand, ihren Geburtstag zu feiern. Den sechzigsten. Immer den sechzigsten. Seit er bei ihr eingezogen war, als Kind, hatte er fünf- oder sechsmal diesen Geburtstag mit ihr gefeiert. Es hatte ihn anfangs belustigt, aber inzwischen fürchtete er sich beinahe davor, dass sie ihn erneut zum Geburtstag einladen würde. Es war, als hielte für sie sogar die Zeit an.
Ihr stetiger Blick, der immer noch tief in sein Innerstes zu schauen schien, machte ihn nervös. Sie hatte ihn sondiert. Sie kannte seine Seele und all ihre Untiefen bis in die kleinste, schmutzige, rabenschwarze Verästelung. Das war keine neue Erfahrung für ihn, denn natürlich hatte Tora während seiner Ausbildung häufig in seinen Geist geblickt. Aber er ging nun schon lange seiner Wege, und nicht alles, was er in seinem Leben tat, würde ihre Billigung finden. Der Gedanke beunruhigte ihn.
»Ich habe dich zu lange belästigt«, sagte er und stand auf. Er legte die Hände zum Gruß zusammen.
Tora nickte knapp. »Du bist immer willkommen.« Sie sah ihm nach. »Halte mich auf dem Laufenden.«
Er war lange durch die Nacht gelaufen, hatte gar nicht bemerkt, wohin ihn seine Schritte trugen. Als eine Stimme ihn
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