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Last Exit

Last Exit

Titel: Last Exit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olen Steinhauer
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Schweigen, was auch Dr. Ray manchmal zum Nachfragen veranlasste: »Milo? Möchten Sie dazu noch etwas anmerken ?« Normalerweise antwortete Milo darauf: »Nein, ich glaube, Tina hat es ziemlich gut erklärt«, auch wenn das nicht zutraf.
    Ein typisches Beispiel war Tinas Darstellung, wie sie sich vor sechseinhalb Jahren kennengelernt und ineinander verliebt hatten. Die Geschichte bot alle Elemente eines Melodramas. Die alleinstehende Tina, im achten Monat schwanger und zu einem letzten Urlaub in Venedig. Sie trifft einen älteren Herrn, einen Gentleman, doch es stellt sich heraus, dass er dem amerikanischen Staat mehrere Millionen Dollar gestohlen hat. Er nimmt sie zu einer Verabredung mit, die in einem Fiasko endet. Milo und seine Partnerin Angela Yates tauchen auf, um den Mann zu verhaften, und ein halbwüchsiges Mädchen stirbt, nachdem
sie von einem hoch gelegenen Balkon gestoßen worden ist. Schüsse fallen – Milo wird zweimal getroffen –, und durch den Stress setzen Tinas Wehen ein.
    Das Zusammentreffen all dieser Ereignisse machte die Geschichte absolut unglaubwürdig, aber Milo konnte keine Einwände gegen Tinas Schilderung der Fakten erheben. Sie entsprachen der Wahrheit. Erst bei der banalen Fortsetzung der Geschichte gingen ihre Versionen auseinander. Tina erwachte in einem italienischen Krankenhauszimmer und entdeckte Milo, der neben ihr auf einem Stuhl schlief. Gleichzeitig liefen im Fernsehen die Bilder von den zwei Flugzeugen, die ins World Trade Center gerast waren. Milo wachte auf, sie schauten gemeinsam zu und dann …
    »Dieses Ereignis hat uns auf eine Weise zusammengeschmiedet, wie es sonst nicht möglich gewesen wäre. Wir kannten uns doch gar nicht. Wir hatten gerade gemeinsam etwas Schreckliches durchgestanden, und dann wurden wir Zeugen von etwas, das noch schlimmer war, noch größer. Ich weiß, das klingt kitschig, aber es ist wahr. In diesem Moment haben wir uns ineinander verliebt.«
    »Milo? Möchten Sie etwas hinzufügen?«
    »Was soll ich da noch hinzufügen?«, hatte er geantwortet. In Wirklichkeit hatte er jedoch das Gleiche gedacht wie immer, wenn sie die Geschichte erzählte: Das ist das Lächerlichste, was ich je gehört habe.
    Milo starrte auf die nackten Wände und spürte ein Verlangen. Nicht nach Tina oder nach Flucht, sondern nach der Packung Zigaretten, die er in Howard Beach so optimistisch verschenkt hatte.

13
    Zwei Anzugträger tauchten auf, ignorierten seine Bitte um ein Abendessen und brachten ihn hinaus. Durch weitere verborgene Gänge lotsten sie ihn ins Freie, wo die nasskalte Luft durchdrungen war vom Heulen der Flugzeuge. Ein schwarzer Ford Explorer wartete auf sie, und er kletterte auf den Rücksitz. Die beiden Männer nahmen zu beiden Seiten von ihm Platz, und ein anderer startete den Geländewagen.
    Fragen haben nur einen Sinn, wenn die Antworten irgendwohin führen. In diesem Fall traf das nicht zu. Er war auf den Touristenzug aufgesprungen, und jetzt musste er dafür zahlen.
    Sie stoppten in der Nähe eines Inlandterminals, und Drummond ließ sich in einem zerknitterten Smoking auf dem Beifahrersitz nieder. Milo fragte sich, ob man ihn aus der Oper herausgeholt hatte, aber es war schon zwei Uhr morgens. Ohne Milo eines Blickes zu würdigen, forderte er den Wagenlenker mit einem Wink Richtung Windschutzscheibe zum Weiterfahren auf.
    »Sie haben Scheiße gebaut, Hall.«
    Milo schwieg ungerührt.
    »Haben Sie geglaubt, dass wir es nicht erfahren? Dass wir das nicht spitzkriegen?«
    Milo räusperte sich; sein Hunger war verflogen. »Haben Sie das Geld gekriegt?«

    Kurzes Stocken. »Ja, es ist angekommen. Gute Arbeit, Gratulation.« Nach einer weiteren, längeren Pause wandte sich Drummond zu Milo um. »Für wen halten Sie sich eigentlich? Ihnen ist wohl Ihre Berufsbezeichnung zu Kopf gestiegen. Ich hab gewusst, wo Sie sind, sobald Sie die letzte Nachricht aus Zürich geschickt haben. Wir haben beobachtet, wie Sie in den Zug nach Paris gestiegen sind. Dort haben Sie einen Pass geklaut und sind dann auf dem Flughafen Charles de Gaulle herumgeschlendert, weil Sie auf Ihre Maschine warten mussten. Die Dinger heißen Überwachungskameras. Sie haben den Pass von Monsieur Claude Girard benutzt – er ist Ihnen halbwegs ähnlich, und es hat geklappt. Am JFK? Kinderspiel. Sie wurden auf dem ganzen Weg nach Columbia überwacht.«
    »Ich wusste nicht, dass es ein Verbrechen ist, wenn man sich mit seiner Frau trifft.«
    Auf diese Bemerkung folgten nur Motorendröhnen

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