Laufend loslassen
meiner ursprünglichen Entscheidung, heute im Zelt zu übernachten, geblieben wäre. So aber fühle ich mich wohl und erlebe es, richtig zu wohnen, eine bei dem ständigen Unterwegssein fast fremd gewordene Erfahrung. Aber es ist wie immer: aufnehmen, einwirken lassen, loslassen.
Mittwoch, 11. Juli
Um sieben wache ich auf, draußen regnet es. Feiner Nieselregen. Auf kleinen Straßen komme ich gut voran. Nach etwas über einer Stunde bin ich in Arblade le Bas und folge der in meinem Führer ausgewiesenen Alternativroute, die direkt nach Barcelonne du Gers führt. Die Landschaft bietet nichts Besonderes, also hänge ich einfach meinen Gedanken nach. Etwa zwölf ist es, als ich den Rand von Aire sur Adour erreiche, einer uralten Stadt, die schon in der Römerzeit eine Rolle gespielt hat und die zweite westgotische Hauptstadt war. Ich kaufe ein, und da es heftiger zu regnen anfängt, flüchte ich unter die großen Platanen direkt an der Brücke über den Adour, die einen Picknickplatz beschatten würden, wenn die Sonne schiene. So aber ist jetzt ihre Aufgabe, den Regen abzuhalten, und das tun sie recht ordentlich. Der Schauer ist gerade lang genug für eine Stärkungspause, dann ziehe ich weiter durch die Altstadt zur Kathedrale. Pilgerempfang ist erst später und Baulärm — es wird gerade ein Metallgerüst in einem Querschiff aufgebaut - vertreibt mich schnell. Also weiter zur Kirche der heiligen Quitteria auf dem Hügel über der Stadt. Quitteria, eine westgotische Prinzessin, im lateinischen Ritus erzogen, sollte einen arianischen westgotischen Prinzen heiraten. Da sie sich weigerte, wurde sie am Fuß des Hügels enthauptet. Mit ihrem Kopf in den Händen lief sie den Hügel hinauf, wo eine Quelle entsprang. Als ich die Kirche erreiche, wirkt auf mich alles ein wenig enttäuschend. Der Brunnen neben der Kirche, der wohl die Quelle sein soll, läuft nicht. Das Tympanon weist Figuren auf, deren Köpfe abgeschlagen sind, wie man es in der Zeit der Französischen Revolution in vielen Kirchen gemacht hat. Das Innere der Kirche ist stark renovierungsbedürftig, der barocke Altar überzeugt mich auch nicht. Lediglich die romanischen Seitenkapellen zeigen etwas von dem, was ich von einer Kirche, die im 11. Jahrhundert erbaut wurde, erwartet habe. Auch der Turm der Kirche ist imposant.
Der Jakobsweg biegt ab Aire sur Adour fast in südliche Richtung ab. Am Stadtrand sehe ich ein Schild: Santiago 932 Kilometer. Das heißt, dass ich heute noch die Hälfte der Strecke Taizé—Santiago erreichen werde. Der Weg führt zunächst am Ufer eines hübschen Stausees vorbei, dann auf einer Landstraße bis Latrille nach Süden, 12 Kilometer ab Aire. Dort also sind es 920 Kilometer in beide Richtungen. Da es am Friedhof ein kleines Häuschen für die Pilger gibt, mit Kaffeemaschine und Kaffee, Tee oder Kakao, und es zudem heftig zu regnen anfängt, bleibe ich fast eine Stunde lang dort.
Eine Frankreichkarte aus Schulbeständen, die aufgehängt ist, lässt das Ausmaß des bisher Geleisteten erkennen. Am zweiten Tag meiner Pilgerreise hätte ich keine Wette darüber angenommen, dass ich auch nur ansatzweise so weit kommen würde.
Jetzt, nach so vielen Kilometern, merke ich, dass nicht nur der Körper gekräftigt ist, sondern dass sich so etwas wie Herzensstärke, Mut entwickelt, um die Schwierigkeiten, die kommen, zu bewältigen. Das wünsche ich mir, dass es mir auch nach der Pilgerreise erhalten bleibt.
Zaudern, Zaghaftigkeit, Unentschlossenheit, das sind Bremsen, die beim Gehen immer mehr gelockert werden und die jetzt nicht mehr greifen. Es ist schon richtig, wenn die Franzosen den Pilgern immer wieder bon courage wünschen.
Guten Mutes sein, das ist einer der Schätze, die es für mich auf dem Weg gibt, der mich so verwandeln darf, dass ich diese Haltung bewahre. Mit diesem inneren Rückhalt werde ich auch an das Thema meiner Beziehung zu Edith herangehen können.
Als sich der Regen wieder legt und da sich das Häuschen in Latrille zum Übernachten nicht eignet, steuere ich den nächsten Gite an. Wieder erst über kleine Landstraßen, dann über einen Wiesenweg geht es voran, sogar die Sonne kommt heute erstmals ein bisschen durch. Einmal führt der Weg an einer Rinderherde vorbei, die wie spanische Kampfstiere aussehen, und wirklich, später weist ein Schild auf eine Ganadería, also eine Zucht hin. Dass es in diesem Teil Frankreichs auch Stierkämpfe gibt, habe ich auf Plakaten schon in Eauze und anderswo
Weitere Kostenlose Bücher