Laura Leander - 03 Laura und das Orakel der Silbernen Sphinx
und der Seele die Ruhe zu schenken, die Voraussetzung war für einen erholsamen Schlaf.
Bedächtigen Schrittes hielt der Traumspinner auf den Pfad zu, der nah am Waldrand um das kleine Dorf herumführte. Der Rundgang dauerte für gewöhnlich nicht länger als eine Viertelstunde, und wenn er dann wieder vor seiner Behausung angelangt war, fühlte Orplid sich stets wie befreit und gerüstet für die Nacht.
An diesem Abend jedoch waren die Gedanken des Meisters schwer. Wenn Somni nur wüsste, wie viel Kummer er ihm bereitete! Gewiss: Der Junge war der begabteste Traumspinnerlehrling, der ihm je unter die Augen gekommen war. Nach kaum sechs Monden Ausbildung verstand er sich schon viel besser auf diese schwierige Kunst als Glutsch oder Gletsch nach einem oder zwei Sommern. Doch trotz all seines Talents war Somni noch immer ein Eleve. Zum Meister fehlte ihm noch vieles, und so hätte er sich niemals erdreisten dürfen, eigenmächtig Erleuchtlinge auf den Weg zu schicken. Und schon gar keine, die zu einer solch entsetzlichen Botschaft zusammengesponnen waren.
Aber vielleicht hatten die Erleuchtlinge die Grenzen von Aventerra ja gar nicht überschritten und irrten nur orientierungslos in der Gegend umher, sodass sie kein Unheil anrichteten.
Hoffentlich!
Unversehens stand Meister Orplid wieder vor seiner Hütte. Schon wollte er die Tür öffnen, als er ein Geräusch aus dem Wald hinter sich vernahm. Der Traumspinner drehte sich um und erblickte Schemen, die mit der Schwärze des Waldes zu verschmelzen schienen. Feuerrote Augenpaare leuchteten ihm entgegen wie glühende Kohlen. Ein schwefliger Hauch schlug ihm ins Gesicht. Plötzlich schössen teuflisch schwarze Wesen aus dem Wald hervor – und ein Inferno brach los.
W ie ein silbriger Schleier lag das Mondlicht über dem Innenhof von Burg Ravenstein. Eilige Schritte, die über die breite Freitreppe nach unten polterten, brachen die nächtliche Stille: Den müden Bruder im Schlepptau, eilte Laura auf die beiden geflügelten Löwen zu, die den Fuß der Treppe zierten. Die marmornen Leiber von Latus und Lateris schimmerten matt. Der Steinerne Riese Portak, der, gebannt in seine Säulengestalt, das Vordach über der Eingangstreppe trug, beobachtete das Geschehen erstaunt. Doch Laura hatte keinen Blick für den Giganten, der ihr schon so manch wertvollen Dienst geleistet hatte. Sie scheuchte Lukas auf den Rücken der linken Löwenskulptur, während sie sich selbst auf den rechts stehenden Latus schwang, legte eine Hand auf das mächtige Haupt der Marmorfigur und zeigte mit der anderen auf den Kopf seines steinernen Bruders. Dann sprach sie die alte Beschwörungsformel, die im Kreis der Wächter seit Anbeginn der Zeiten weitergegeben wurde: »Hört zu, ihr Löwen rechts und links, die ihr die Brüder seid der Sphinx; in dieser Stunde größter Not, auch ihr gehorcht des Lichts Gebot und löst euch nun aus totem Stein, damit ihr könnt behilflich sein!«
Unverzüglich erwachten die geflügelten Löwenbrüder aus ihrem Schlaf. Laura meinte die kräftigen Muskeln unter der Marmorhaut von Latus zu spüren, während er die Schwingen weit ausbreitete und sie sachte bewegte, als wolle er prüfen, ob sie ihm immer noch gehorchten. Ein Lufthauch fuhr in Lauras Haar und wirbelte es auf, während die Flügel fast geräuschlos auf und ab schwangen.
Lateris tat es seinem Bruder Latus gleich. Er bewegte die Flügel, wiegte den imposanten Löwenkopf, sodass die Mähne wehte, wedelte mit dem Schwanz und hob abwechselnd die kräftigen Tatzen vom Steinsockel. Der Junge auf seinem Rücken war aschfahl. Obwohl Lukas das Geheimnis der Fabeltiere längst kannte, schien er deren wundersame Verwandlung immer noch nicht so richtig fassen zu können. Wie sollte er auch? Wie sollte sein Geist, der in logischem Denken geschult war, auch akzeptieren, dass es eine Wirklichkeit jenseits des menschlichen Verstandes gab, selbst wenn diese sich direkt vor seinen Augen eröffnete?
Amüsiert registrierte Laura den skeptischen Blick des Bruders. »Hab keine Angst, Lukas! Auf Lateris’ Rücken bist du genauso sicher wie in einem Flugzeug.«
»Umso schlimmer«, seufzte der Junge und verzog gequält das Gesicht. »Du weißt doch, dass ich Flugangst habe.«
Bevor Laura antworten konnte, meldete sich Latus zu Wort.
»Wenn Ihr mir eine Bemerkung gestatten würdet, Madame?« warf er mit ausgesuchter Höflichkeit ein. »Aber mir will scheinen, dass die Zeit drängt!«
Lauras Lippen verzogen sich zu einem
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