Laura Leander - 03 Laura und das Orakel der Silbernen Sphinx
selbst in Sicherheit bringen.
Gerade wollte sie die Augen schließen, um sich in den Tunnel zu begeben – in jenen Trancezustand, der ihr die Rückkehr in die Gegenwart ermöglichte –, als ihr Blick noch einmal nach draußen fiel, auf die Holzhäuser mit den knochentrockenen Schindeldächern. Auf die dürren Holzstapel und die ausgedorrten Bretterwände der Schuppen. Und auf den hoch mit Heu beladenen Wagen. Jetzt, mitten in der sommerlichen Hitzeperiode, würde ein einziger Funke genügen, um sie allesamt in Brand zu stecken! Drachenthal stand vor einer schrecklichen Katastrophe – und keiner der Bewohner ahnte auch nur im Geringsten die tödliche Gefahr, in der sie alle schwebten. Wenn sie nicht umgehend alarmiert wurden, würden Hunderte, vielleicht sogar Tausende von Menschen im Schlaf sterben. Nein, sie durfte sich nicht einfach so aus dem Staub machen. Sie musste die Ahnungslosen warnen, und zwar so schnell wie möglich!
Im Museum war es bereits unerträglich heiß und stickig g e worden. Hustend packte Laura einen Stuhl und stürzte damit zum Fenster. Sie wollte die Scheibe gerade vollends zerschmettern, als sie eine Gestalt über den Kirchplatz davonhasten sah
Der Feuerteufel?
Eben lief er an der Gaslaterne vorbei, die sein Gesicht für wenige Augenblicke erhellte. Es war Konrad Köpfer!
Der Rote Tod!
Plötzlich blieb der Albino stehen, drehte sich um und schaute zu ihr herüber. Offenbar konnte er sie hinter dem vergitterten Fenster erkennen, denn ihr war, als balle er triumphierend die Faust, bevor er hinter der Kirche verschwand.
Die Scheibe ging schon beim ersten Schlag klirrend zu Bruch. Gleich einem Schalltrichter schloss Laura die Hände um den Mund und brüllte aus Leibeskräften: »Feuer! Feuer! Feuer!« Immer und immer wieder.
Nichts geschah. Offensichtlich hörte sie niemand.
Was sollte sie nur tun?
Das Prasseln der Flammen in ihrem Rücken wurde heftiger und ging in ein bedrohliches Fauchen über.
»Feuer!«, schrie Laura, bis sie heiser wurde. »Feuer! Feuer!«
Doch noch immer tat sich nichts.
Die Bürger von Drachenthal schienen allesamt über einen tiefen Schlaf zu verfügen. Verzweiflung befiel Laura. Was konnte sie sich denn noch einfallen lassen, um die Drachenthaler zu warnen? Eine Sirene gab es im Jahre 1904 mit Sicherheit nicht! Und selbst wenn: Wie hätte sie Alarm auslösen können? Damals warnte man die Menschen doch meistens durch Glockenge –
Natürlich!
Hinter Laura brannte es bereits lichterloh. Aus dem Fauchen des Feuers war ein Brüllen geworden. Schon standen die Deckenbalken in Flammen, die sich in ihrer unersättlichen Gier unaufhaltsam in das obere Stockwerk fraßen. In Lauras Rücken war es glühend heiß. Sie bekam kaum noch Luft, und der Schweiß lief ihr aus allen Poren, während sie versuchte, alle störenden Eindrücke und Empfindungen auszublenden. In höchster Konzentration starrte sie auf die Glocken im Kirchturm am anderen Ende des Platzes. Würde sie es schaffen, sie kraft ihrer Gedanken zum Schwingen zu bringen? Ihnen über eine Distanz von mehr als dreißig Metern ihren Willen aufzuzwingen?
Sie musste es einfach! Sonst waren die Menschen von Drachenthal hilflos dem Tod geweiht!
Eine Feuerwand wälzte sich unaufhaltsam auf Laura zu. Doch das Mädchen bemerkte das nicht: Die Augen zu schmalen Schlitzen verengt, fixierte es die Glocken im Kirchturm. »Läutet!«, befahl es ihnen.
»Läutet und schlagt endlich Alarm!«
Schon sah es so aus, als sei alle Mühe vergebens, als sich die Kirchenglocken doch noch in Bewegung setzten. Kaum wahrnehmbar zunächst, dann immer weiter und weiter, begannen sie zu schwingen, bis ihr mächtiges Geläut weithin über die Dächer der Stadt dröhnte.
»Ja!«, jubelte Laura, als die ersten Fenster und Türen geöffnet wurden und in Nachtgewänder gehüllte Menschen schlaftrunken ins Freie wankten.
Laura spürte die mörderische Hitze und gewahrte plötzlich, dass ihre Kleider schon ganz versengt rochen. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis ihre Haare Feuer fingen. Wie ein Schwerthieb traf Laura die Erkenntnis: Es ist zu spät! Ich kann nicht mehr zurück! Bis ich mich in Trance versetzt habe, bin ich längst verbrannt!
M orwena stellte den Becher mit dem Schlaftee auf dem Tisch ab und wandte sich an den Hüter des Lichts. »Lasst ihn Euch munden, Herr.«
»Was führst du denn diesmal im Schilde?«, fragte Elysion streng und blickte die Heilerin eindringlich an.
Röte färbte die Wangen der jungen Frau.
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