Lautlose Jagd
Augenblick, es gibt weitere Meldungen... Auch die staatliche Rundfunk- und Fernsehzentrale wird belagert. Sie sendet Einsatzbefehle für Dutzende von Truppenteilen, für Reserven und paramilitärische Einheiten, auch für die beiden zum Schutz der Hauptstadt bestimmten Korps.«
»Das ist merkwürdig«, sagte der Präsident. »Wozu Einsatzbefehle im Rundfunk verbreiten ? Warum benutzen sie nicht die militärischen Netze?«
»Und warum haben diese Truppen nicht längst auf die südkoreanischen Angriffe reagiert?«, fragte Philip Freeman, der nationale Sicherheitsberater. »Sie müssen die südkoreanischen Flugzeuge praktisch sofort nach dem Start geortet haben - jedenfalls lange vor dem Überfliegen der Entmilitarisierten Zone. Das war vor fast zwanzig Minuten. Was zum Teufel geht dort drüben vor?«
Chastain hob eine Hand, während er gespannt zuhörte; dann setzte er Kopfhörer und Mikrofon ab und starrte sie ausdruckslos an. »Arthur?«, fragte Freeman drängend. »Was ist passiert?«
»Die KZNA sendet nicht mehr«, antwortete Chastain. »Sie hat noch gemeldet, das Presse- und Informationsamt der Regierung habe mitgeteilt, es werde von Agitatoren und Randalierern überrannt, die von desertierten Soldaten unterstützt würden. Ein paar Minuten später hat sich dann jemand gemeldet, der sich als Vertreter der neuen Vereinigten Republik Korea vorgestellt hat.«
»Die was?«, fragte Martindale. »Ist das eine nationalistische Fraktion? Eine Oppositionsgruppe?«
»Keine Ahnung«, gab Chastain zu. »Nie davon gehört. Aber diese Leute behaupten, Bevollmächtigte des neuen Vereinten Koreas zu sein. Ihrer Aussage nach hat Präsident Kim Jong-il die Hauptstadt mit seinem Kabinett und mehreren Mitgliedern des koreanischen Politbüros verlassen. Sie verbreiten, er sei nach China ins Exil unterwegs.«
»Unglaublich!«, rief der Präsident aus. »Ich kann's nicht fassen!
Nordkorea... kapituliert einfach! Die Grenze hat sich in Luft aufgelöst?«
»Genau wie damals in Deutschland, Sir«, sagte CIA-Direktor Robert Plank, der jetzt mit einem Stapel Fotos und Meldungen den Lageraum betrat. »Entschuldigen Sie meine Verspätung, Sir, aber ich musste noch die letzten Downloads und Aufklärungsmeldungen abwarten. Es stimmt tatsächlich: Große Teile der regulären Armee, der Reserven und paramilitärischer Einheiten sind desertiert und marschieren nach Pjöngjang, um sich den Aufrührern anzuschließen, oder ziehen mit ihren Angehörigen und ein paar Habseligkeiten nach Süden. Die Demarkationslinie hält sie nicht auf, weil alle südkoreanischen Kontrollstellen offen stehen. Pan-munjom, Kangseri, Kumhwa, Sehyonni, Sohwari - alle Grenzstädte haben ihre Barrikaden geöffnet. Die Artilleriestellungen und Panzerhindernisse sind weiterhin bemannt, aber niemand versucht, die Flüchtlinge abzuweisen, aufzuhalten, zu durchsuchen oder zu identifizieren. Ein ganzes Heer von Spionen könnte in den Süden gelangen, ohne dass jemand davon erfährt. Inzwischen werden die Minenfelder gesprengt - von südkoreanischen Soldaten. Sie schaffen sichere Übergänge, die jedermann aus dem Norden benutzen kann.«
»Was ist mit unseren Stützpunkten?«, erkundigte der Präsident sich.
»Alle gesichert und hermetisch abgeriegelt«, sagte Arthur Chastain. »Die Stützpunkte der Koreaner stehen allerdings weit offen. Sie dienen als Auffanglager für Flüchtlinge und Umsiedler. Eine unglaubliche Situation! Der Süden hat einfach seine Tore geöffnet.«
»Ganz recht«, bestätigte Plank. »Die Fernstraßen eins, drei, dreiundvierzig und fünf - alle über die Demarkationslinie führenden Straßen stehen offen. Es gibt keine Grenzkontrollen, keine Durchsuchungen, niemand braucht Papiere vorzuweisen. Die Südkoreaner haben bereits angefangen, entlang der Entmilitarisierten Zone Beratungsstellen zu eröffnen, die Nordkoreanern helfen, Verwandte im Süden ausfindig zu machen - eine offenbar von langer Hand vorbereitete Maßnahme. Sie transportieren die Flüchtlinge aus dem Niemandsland entlang der Grenze ab und wechseln sogar nordkoreanische Won in südkoreanische um. Ich kann nur sagen, das ist das Unglaublichste, was ich seit dem Fall der Berliner Mauer erlebt habe!«
»Ich muss mit China reden«, entschied Martindale. »Ich muss dringend mit Präsident Jiang persönlich reden.«
»Das Außenministerium versucht, ihn ans Telefon zu bekommen«, berichtete Stabschef Jerrod Hale.
Der Präsident schüttelte frustriert den Kopf. Jiang Zemin telefonierte
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