Leben Ist Jetzt
vertan habe oder wo ich mich falsch entschieden
habe? Führt das zur Weisheit oder nur zur Selbstverurteilung?
Manchmal kann es heilsam sein, die traumatischen Erlebnisse in einer verschlossenen Kammer der eigenen Seele aufzubewahren. Wenn sich
diese Erlebnisse in neurotischen Symptomen oder in Krankheiten äußern, ist es allerdings hilfreich, sie anzuschauen und mit einem Therapeuten oder einer
Seelsorgerin zu besprechen. Wichtiger aber ist, sich den gesunden Quellen zuzuwenden, die jeder in seinem Leben auch hat und zu versuchen, mit diesen
Quellen in Berührung zu kommen.
Wir können das Vergangene nicht rückgängig machen. Auch Selbstvorwürfe, dass wir etwa bestimmte Chancen verpasst
haben, führen nicht zum Leben. Im Gegenteil, oft sind solche Vorwürfe nur ein Vorwand, nicht im Augenblick zu leben, sich nicht dem Leben zu stellen mit
den Herausforderungen, die es heute stellt. Das Leben war so, wie es war. Damit haben wir uns auszusöhnen. Und es ist gut, sich einzugestehen, dass das
Leben nicht immer eine Erfolgsgeschichte war. Auch wenn vieles auch schief gelaufen ist – ich habe es erlebt. Und ich habe an dem Erlebten etwas
gelernt. Ich bin daran gewachsen. Wenn wir das sehen, können wir uns verabschieden von dem Ideal, das alles perfekt sein muss. Wenn die Erinnerungen von
verpassten Chancen hochkommen, sollen wir sie anschauen und betrauern, aber dann wieder zu uns selbst und zum gegenwärtigen Augenblick zurückkommen. Wie
möchte ich heute leben? Was lehrt mich meine Vergangenheit? Sie könnte uns gelassener und weiser machen, wenn wir uns damit aussöhnen und sie als
Lernfeld sehen, auf dem wir vor allem uns selbst mit allen Höhen und Tiefen kennenlernen. Wer sich selber kennt und sich damit aussöhnt, der wird
weise. Walter Benjamin hat einmal das schöne Wort geprägt: „Glück besteht darin, seiner selbst, ohne zu erschrecken, inne zu werden.“ Wenn ich mich an
alles erinnern kann, ohne zu erschrecken, dann habe ich mich selber angenommen, dann bin ich im Einklang mit mir, dann bin ich glücklich.
Ich muss nichts mehr – ich darf einfach sein
Freiheit bedeutet nicht, dass ich möglichst vieles tun kann, dass mir alle Türen offen stehen. Sie besteht vielmehr in einer inneren
Haltung. Ich bin frei von der Macht der Menschen, von ihren Erwartungen und Urteilen. Ich bin frei von dem Druck, den ich mir oft selber setze. Ich fühle
mich frei, meinem Gewissen zu folgen, mit mir im Einklang zu leben. Das ist die wahre Freiheit. Die Freiheit des Denkens kann mir niemand nehmen, auch
wenn ich nach außen nicht mehr viel tun kann. Und diese Freiheit äußert sich dann auch darin, dass ich den Mut habe, das zu sagen, was ich denke. Alte
Menschen sind frei von dem Druck, sich nach außen gut verkaufen zu müssen. Sie sind frei, die zu sein, die sie sind. Das ist die wahre Freiheit, die mit
dem Alter wächst.
Die äußere Freiheit nimmt im Alter ab. Die Möglichkeiten, die mir noch zur Verfügung stehen, werden weniger. Manchmal wird das Ja dazu nur über einen
Prozess des Betrauerns entstehen. Aber wenn ich durch das Betrauern in den inneren Raum meiner Seele gelange, werde ich dort die wahre Freiheit finden. Es
ist die Freiheit, von der Jesus sagt: „Die Söhne sind frei.“ (Mt 17,26) Ich bin nicht mehr Sklave meiner eigenen Bedürfnisse. Ich stehe nicht mehr unter
dem Druck, die Erwartungen der anderen erfüllen zu müssen. Ich muss gar nichts mehr. Ich darf einfach sein.
Unsere Zeit ist begrenzt. Wir sollen sie nutzen, aber auch einfach nur genießen
Kürzlich sagte mir jemand, sein alter Vater habe sich über einen Tag geärgert, der nicht zu seiner Zufriedenheit verlaufen war. „In
meinem Alter hat man nichts mehr zu verschenken“, sagte er. Es kommt darauf an, wie man den Satz versteht. Wenn er meint, er müsse noch vieles in seinem
Leben erledigen und heute habe er gar nicht viel tun können, er habe heute gar nichts geleistet, dann könnte man den Satz als Zeichen innerer Armut eines
Menschen sehen, der sich zu sehr von dem her definiert, was er nach außen tun kann. Aber man kann den Satz auch anders verstehen. Der Vater war
unzufrieden über den Tag, weil er sich über andere geärgert hat, weil er zu sehr über andere geschimpft hat, weil es nur Missverständnisse gab. Das wäre
eine gute Selbsteinsicht. Weil meine Zeit begrenzt ist, will ich die Tage nicht mit unnützem Geschwätz oder mit unnötigen Streitereien verbringen.
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