Leben ohne Krankheit: »Einer der besten Mediziner Amerikas lehrt ein radikal neues Denken über unsere Gesundheit.« Al Gore (German Edition)
Anstrich gab. Unter Leitung eines Forschers am Brigham and Women’s Hospital in Boston analysierte ein internationales Team Daten aus der medizinischen Fachliteratur. Die Gruppe untersuchte neun Studien, die bis Januar 2010 veröffentlicht worden waren und eine Gesamtzahl von über 118000 Teilnehmern aufwiesen, von denen 59357 Vitamin-E-Präparate einnahmen und 59408 Placebos. Studien mit Multivitaminpräparaten wurden nicht erfasst. Das Team fand heraus, dass die Einnahme von Vitamin-E-Präparaten das Risiko eines hämorrhagischen Schlaganfalls, also einer Hirnblutung, um ein geringes, aber feststellbares Maß erhöhte. Andererseits reduzierte Vitamin E das Risiko eines ischämischen Schlaganfalls, bei dem der Blutfluss zu einem Segment des Gehirns abgeschnitten wird. Verwirrend?
Permanente Paradoxe
Solche paradoxen Ergebnisse sind nicht ungewöhnlich und unterstreichen, was ich in diesem Buch von Anfang an gesagt habe: Wenn es um den komplexen menschlichen Körper geht, kann man nicht einfach etwas Bestimmtes tun, um etwas anderes zu bewirken. Die Einnahme eines Medikaments verändert das gesamte System, nicht nur den Bereich, den man damit beeinflussen möchte. Mehr als alles andere untermauern diese Ergebnisse die Erkenntnis, dass Nahrungsergänzungsmittel kein Ersatz für eine ausgewogene Ernährung, sportliche Betätigung, Abnehmen und Nichtrauchen sind, um das Herzinfarkt- und Schlaganfallrisiko zu senken. Sehen wir uns eine weitere umfassende neuere Studie an, in der die Vitaminfrage zu Krebserkrankungen in Bezug gesetzt wurde.
Mit der Alpha-Tocopherol- (eine Form von Vitamin E) und Beta-Carotin-Krebsvorbeugungsstudie (ATBC Cancer Prevention Study), die das US National Cancer Institute von 1985 bis 1993 gemeinsam mit dem Staatlichen Gesundheits- und Wohlfahrtsamt Finnlands durchführte, sollte untersucht werden, ob bestimmte Vitaminpräparate bei einer Gruppe von 29133 männlichen finnischen Rauchern Lungenkrebs und anderen Krebsformen vorbeugen konnten. Die 50- bis 69-jährigen Teilnehmer nahmen fünf bis acht Jahre lang täglich eine Tablette ein, die entweder 50 mg Vitamin E, 20 mg Beta-Carotin, beides oder keines von beiden (Placebo) enthielt. Vitamin E und Beta-Carotin wurden deshalb ausgewählt, weil vorherige Studien darauf hindeuteten, dass eine vermehrte Einnahme und ein hoher Blutserumwert dieser Mikronährstoffe das Krebsrisiko verminderten, insbesondere für Lungenkrebs. Beide Substanzen sind Antioxidantien, die möglicherweise Karzinogene daran hindern, die DNA und andere Zellsysteme zu beschädigen.
Die ATBC-Studie wurde in Finnland durchgeführt, weil dort die Lungenkrebsrate bei Männern, hauptsächlich durch Zigarettenrauchen, sehr hoch ist. Darüber hinaus hat Finnland ein Kliniksystem für das Screening und die Behandlung von Lungenkranken, besonders Tuberkulosepatienten, über das die Versuchspersonen an der Studie teilnahmen, sowie ein nationales Krebsregister, das alle im Land gemeldeten Krebsfälle überwacht und eine wichtige Vergleichsgröße für die Großstudie darstellte. Frauen wurden für die Studie nicht angeworben, weil ihre Lungenkrebsrate in Finnland weit unter der für Männer lag. Für 1985 betrug sie, altersbereinigt, bei Männern 67 pro 100000 Einwohner und bei Frauen 8 pro 100000.
Die Versuchsteilnehmer begannen 1985 mit der Einnahme der Vitaminpräparate und hörten spätestens im April 1993 damit auf. Die Zahlen für Beta-Carotin sahen danach nicht gut aus: Männer, die es als Nahrungszusatz einnahmen, hatten ein um 18 Prozent höheres Lungenkrebsrisiko und eine um 8 Prozent erhöhte Sterblichkeit. Leider sah es auch bei kombinierter Einnahme von Beta-Carotin und Vitamin E nicht besser aus. Das Urteil für Vitamin E alleine fiel allerdings nicht so eindeutig aus: Es schien keinen Effekt auf die Lungenkrebsrate oder die Gesamtsterblichkeit zu haben, aber dafür andere Gesundheitsaspekte der Probanden zu beeinflussen. Bei denjenigen, die alleine Vitamin E einnahmen, sank die Prostatakrebsrate um 32 Prozent und die Sterberate an Prostatakrebs sogar um 41 Prozent. Aber es gab einen ausgeprägten Gegeneffekt: Todesfälle durch hämorrhagischen Schlaganfall, bei dem ein gerissenes Blutgefäß die Versorgung eines Gehirnareals unterbricht, nahmen bei den Vitamin-E-Konsumenten um 50 Prozent zu, besonders bei denjenigen mit Bluthochdruck.
Glücklicherweise verloren die Versuchsleiter mit dem Ende des aktiven Versuchsprogramms 1993 nicht das Interesse an der
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