Leben um zu lieben (Junge Liebe) (German Edition)
veranlagt. Im Grunde genommen machte ich mir kaum Gedanken darüber, dass ich mich gerade über das Leben der Schwulen informierte. Ich hatte bereits erkannt, dass schwul zu sein ohne Familie und Freunde einfacher sein musste. Für einen Moment musste ich dennoch stark schlucken. Ich versuchte mir meine Familie vorzustellen. Wie hätte sie darauf reagiert, wenn ich ihnen gestanden hätte, dass ich mich mehr für Gleichgeschlechtliche interessierte? Meine Mutter war in ihren Auffassungen sehr modern gewesen und hätte es wahrscheinlich sofort akzeptiert und sich vielleicht auch noch dafür interessiert. Meine kleine Schwester hätte womöglich nur gelacht und sich über mich lustig gemacht. Früher oder später hätte sie damit wohl kaum Probleme gehabt. Meinen Vater stellte ich mir dabei etwas strenger vor. Er war schließlich selbst ein Mann und hätte sich wohl ewig vorgeworfen, an der Erziehung etwas falsch gemacht zu haben. Immer wieder hätte er mich gefragt, was in mir vorgehen würde und warum ich eine Freundin gehabt hatte. Ich war mir sicher, dass er mich stets vom Gegenteil zu überzeugen versucht hätte. Er wäre mir niemals böse gewesen und hätte mich weiterhin akzeptiert, sich jedoch einfach nicht mit der Wahrheit abfinden wollen. Bei all den Gedanken fühlte ich mich meiner Familie sehr nahe und musste schmunzeln, wenn ich mir meinen Vater vorstellte. Auch wenn keiner von ihnen mehr spürbar anwesend war, lebten sie in meinem Herzen weiter. Mit Gedanken an sie konnte ich meine Familie am Leben halten, was mir selbst unglaublich gut tat.
Ich warf einen Blick auf den Laptop und klappte ihn schließlich zu. Ich hatte tatsächlich den ganzen Tag mit dem Herumstöbern durch Internetseiten verbracht und war mit der Zeit müde geworden. Über Kevins Angebot wollte ich mir im Verlauf der Woche Gedanken machen. Wie ich mir die Woche über die Zeit vertreiben wollte, wusste ich noch nicht. Jetzt, wo ich wieder Lust am Leben gefunden hatte, war das altbekannte Gefühl der Langeweile zurückgekehrt
Schneller als erwartet war die Woche schließlich vergangen. Ich hatte viel philosophiert und geschrieben und mich mit meinem Keyboard befasst. Es war Freitagmorgen und ich hatte mich weder für noch gegen einen Kinobesuch mit Kevin entschieden. Auf einmal fiel mir ein, dass Kevin am Vortag eine Klausur geschrieben hatte. Sofort griff ich nach dem Handy, das Frau Riedel mir geschenkt hatte, und formulierte eine SMS an Kevin. Ich fragte ihn nach der Klausur und schrieb, dass ich Lust auf einen gemeinsamen Kinobesuch hätte. Das Letztere hatte ich schneller getippt, als ich drüber nachgedacht hatte. Dennoch versendete ich die Nachricht. Ich machte mich frisch, frühstückte und stellte die Kaffeemaschine an, als mein Handy zu vibrieren begann. Ich öffnete die angekommene SMS und war nicht sonderlich überrascht, dass sie von Kevin war. Er schrieb, dass die Klausur gut gelaufen war und dass man sich abends gegen neunzehn Uhr dreißig am Kino treffen könnte. Ich tippte hastig eine kurze Antwort und legte das Handy nachdenklich zurück auf den Tisch. Ich hatte mich verabredet, ohne genauer über das vermeintliche Treffen nachzudenken. Merkwürdige Bilder entstanden in meinem Kopf und obgleich ich es mir nicht eingestehen wollte, machte sich bereits zu der frühen Stunde Nervosität in mir breit. Eine Rückmeldung auf meine letzte Nachricht erhielt ich nicht mehr, woraus ich schloss, dass die Verabredung feststand. Ich wollte Kevin an diesem Abend in das Kino einladen als Wiedergutmachung dafür, dass er bisher alles andere für mich mitbezahlt hatte. Ich war mir noch immer nicht sicher, was genau ich für Kevin empfand. Ich fühlte mich geborgen in seiner Anwesenheit und er war mir vertraut, obwohl ich ihn kaum kannte. Innerlich hatte ich mich bereits damit abgefunden, dass ich schwul sein könnte, doch hatte ich gleichermaßen die Befürchtung, mich zu stark mit diesem Thema auseinanderzusetzten. Vielleicht steigerte ich mich nur in etwas hinein.
Ich beschloss mich den übrigen Tag mit dem Lesen eines philosophischen Buches abzulenken. Immerhin beruhigten mich diese Texte und lenkten mich aufgrund ihrer Komplexität von den eigentlichen Gedanken und Ängsten ab.
XII
Der Kinobesuch
Wie vermutet war der Nachmittag entspannt und zugleich schnell vergangen. Ein kurzer Blick auf die Uhr zeigte mir, dass es bereits halb sieben war. Ich klemmte ein Lesezeichen zwischen die Seiten und legte das Buch beiseite. Mein
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