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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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der Verstärkungseinheiten wollen uns besuchen kommen, einfach so, um uns kennenzulernen, ohne besonderes Anliegen.«
    »Schade, dass Getmanow zum Frontstab musste. Was er da wohl wieder will?«, sagte Nowikow.
    Sie verabredeten sich zum Essen, und Nowikow ging in sein Quartier, um sich frischzumachen und das staubige Hemd zu wechseln.
    Die breite Dorfstraße war wie ausgestorben, nur neben dem Bombentrichter stand der alte Mann, in dessen Hütte Getmanow Quartier bezogen hatte. Als handle es sich um eine Vorratsgrube, nahm der Alte daran mit gespreizten Händen geheimnisvolle Messungen vor. Als Nowikow auf gleicher Höhe mit ihm war, fragte er: »Was sind das für Hexenkünste, Alter?«
    Der Alte salutierte und sagte: »Genosse Kommandeur, ich war im Jahr 1915 in deutscher Gefangenschaft, hab dort bei einer Frau auf dem Hof gearbeitet.« Er zeigte erst auf die Grube und dann auf den Himmel und fuhr fort: »Da muss heute früh mein Bankert, dieser Hundesohn, zu Besuch gekommen sein.«
    Nowikow brach in Gelächter aus: »Oje, Alter.«
    Er warf einen Blick auf die geschlossenen Läden von Getmanows Fenster, nickte dem Türposten zu und dachte plötzlich wieder: Was zum Teufel will der im Frontstab? Was hat er dort zu schaffen? Einen Augenblick hatte er den unangenehmen Verdacht, Getmanow spiele falsch. Wie hatte er doch Below wegen seines unmoralischen Lebenswandels abgekanzelt, und kaum hatte Nowikow seine Tamara erwähnt, da war er eingeschnappt.
    Doch gleich darauf erschienen ihm diese Gedanken müßig; er war kein misstrauischer Mensch.
    Er bog um die Hausecke und stieß auf ein paar Dutzend Jungen, vermutlich vom Rayon-Wehrersatzkommissariat mobilisiert, die sich am Dorfbrunnen auf dem Anger tummelten.
    Der begleitende Soldat war erschöpft eingeschlafen, das Gesicht mit der Feldmütze bedeckt; neben ihm lag ein Haufen kleiner Bündel und Säcke. Die Jungen waren offenbar ziemlich weit durch die Steppe marschiert, hatten sich wund gelaufen, einige von ihnen hatten sich die Stiefel ausgezogen. Ihre Köpfe waren noch nicht geschoren, und von weitem sahen sie aus wie Dorfschüler auf dem Pausenhof. Ihre schmalen Gesichter und dünnen Hälse, die dunkelblonden, langen Haare, die geflickten, aus väterlichen Jacken und Hosen zusammengeschneiderten Kleider – das alles wirkte überaus kindlich. Einige von ihnen spielten das traditionelle Bubenspiel; einst hatte auch der Korpskommandeur es gespielt. Sie versuchten, Fünfkopekenstücke in ein kleines Loch zu werfen, zielten angestrengt mit zusammengekniffenen Augen. Die Übrigen sahen zu, und nur ihre Augen waren nicht kindlich, sondern unruhig und traurig.
    Sie bemerkten Nowikow und schauten rasch zu ihrem schlafenden Anführer hin, wohl um sich bei ihm Rat zu holen, ob man denn weiter Fünfer werfen und sitzen bleiben durfte, wenn ein Befehlshaber vorbeikam.
    »Macht nur, macht weiter, ihr Helden«, sagte Nowikow mit weicher Stimme und winkte ihnen im Vorbeigehen zu.
    Furchtbares Mitleid mit diesen Jungen ergriff ihn, bohrte sich in sein Herz mit einer Heftigkeit, die ihn selbst erschreckte. Irgendwie hatten ihm diese mageren, großäugigen Jungengesichter mit erschreckender Deutlichkeit klargemacht, dass es ja Kinder waren … In der Armee ist das Kindliche, das Menschliche verborgen unter dem Helm, in der militärischen Haltung, im Knarren der Stiefel, in den eingedrillten Bewegungen und Worten. Hier dagegen trat es offen zutage.
    Er ging ins Haus und wunderte sich, dass von all den schweren Gedanken und Eindrücken des heutigen Tages diese Begegnung mit den frisch einberufenen Jungen wohl am bewegendsten war.
    »Menschenmaterial«, sagte er zu sich, »Menschenmaterial, Menschenmaterial.«
    Sein ganzes Soldatenleben lang hatte ihn die Furcht vor den Vorgesetzten wegen eventueller Verluste an technischer Ausrüstung und Munition, wegen Zeitüberschreitung, wegen mangelhafter Wartung der Fahrzeuge, Motoren und fehlenden Treibstoffs, wegen des eigenmächtigen Aufgebens einer Stellung auf einer Anhöhe oder einer Weggabelung begleitet. Nie hatte er jedoch erlebt, dass sich die Führer nach einer Schlacht allen Ernstes über große Verluste an Menschenmaterial ereifert hätten. Es kam sogar vor, dass ein Vorgesetzter Leute ins feindliche Feuer schickte, um dem Zorn der übergeordneten Instanzen wenigstens mit der Erklärung begegnen zu können, er habe alles getan, sogar die Hälfte seiner Leute geopfert, habe aber die geforderte Linie nicht einnehmen können.
    Ja,

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