Lebenselixier
Johanns Finger huschten über die
Tastatur. Dann blickte er verblüfft auf. „Der Zugang in der Krypta.“
Der ohnehin
schwache Schein der Campingleuchte ließ seit Minuten deutlich nach. Vincente
blieb nichts übrig, als sich einzugestehen, dass er hoffnungslos die
Orientierung verloren hatte. Er ahnte, in der Zeit, solange die Batterie noch
reichte, würde er nirgendwo ankommen. Und aus diesem Labyrinth feuchtkalter Tunnel
hinauszufinden, zurück in seine Kirche, schaffte er ebenso wenig.
Der urplötzlich
aufflammende Lichtkegel einer starken Taschenlampe blendete ihn. Seine Lampe
polterte zu Boden. Schützend hob er den Arm vor die Augen. Der grelle
Lichtstrahl wanderte zur Decke und tauchte den Gang in indirekten Schein.
Vor Vincente stand ein hünenhafter, dunkelhaariger Mann und musterte ihn
forschend. Bevor der Priester seinen Schock überwinden konnte, sprach der
Fremde ihn mit ruhiger, tiefer Stimme an.
„Sie sind Vater Vincente, der katholische Gemeindepfarrer, nicht wahr? Bitte
entschuldigen Sie, dass ich sie erschreckt habe, aber … was in aller Welt tun
sie hier unten, mitten in der Nacht?“
Vincente suchte nach Worten und nach seiner Stimme. Dass der Fremde ihn kannte,
besänftigte seinen Schrecken und trieb ihm zugleich die Schamröte ins Gesicht.
Er bückte sich nach seiner Lampe und schaltete sie aus. Womöglich würde er das
bisschen Strom in den Batterien noch brauchen.
„Jäger“, sagte der Fremde, und streckte Vincente eine große, kräftige Hand
entgegen. Der Priester griff automatisch danach. Der Händedruck war fest, ohne
in einen Kraftakt auszuarten. Die Hand selbst war schwer und schwielig, als
wäre ihr Besitzer körperliche Arbeit gewohnt. Oder das Kämpfen mit Schwertern. Vincente schüttelte innerlich den Kopf. Was
für ein sonderbarer Gedanke!
„Das ist mein Name“, erläuterte der Fremde, mit leichter Belustigung in der
Stimme. „Johann Jäger.“
Vincente wurde bewusst, dass er sein Gegenüber wie ein Idiot anstarrte. Er riss
sich zusammen. „Oh. Ja. Sie haben recht. Ich bin Vater Vincente.“
„Ich möchte mich nochmals entschuldigen, dass ich sie erschreckt habe. Ich
dachte natürlich, dass sich wieder einmal ein Landstreicher oder ein paar
Teenager hier herunter verirrt haben. Solange die Stadt nicht das Geld
aufbringen kann, diese Tunnel statisch zu sichern, ist es teilweise
lebensgefährlich, sich hier unten aufzuhalten. Deshalb gibt es auch das
Alarmsystem.“
„Oh!“ Vincente
fühlte sich wie der größte Trottel aller Zeiten. Wie hatte er diese Möglichkeit
übersehen können? In der heutigen Zeit, in der nahezu alles verdrahtet und
kameraüberwacht war. „Natürlich!“
Jäger machte eine raumgreifende Geste „Die Stadtverwaltung hat mir vor Jahren
die ehrenamtliche Aufgabe übertragen, mich um diese Anlage zu kümmern. Ich
möchte Ihnen wirklich nicht zu nahe treten, Vater. Aber sicher haben sie das Zutritt-Verboten-Schild am Zugang in der Krypta bemerkt. Und, bei allem Respekt, dieses Schild gilt
auch für sie.“
„Äh!“ Vincente fühlte sich wie ein zur Rede gestellter Schuljunge. Die
Autorität, die dieser Mann in Stimme und Haltung ausstrahlte, war schier
überwältigend, gerade weil er sich ausgesprochen höflich gab. Der Priester rief
sich ins Gedächtnis, was er über diesen wohlhabenden und zurückgezogen lebenden
Mitbürger gehört hatte. Er sollte irgendeine gehobene Stellung beim Militär
einnehmen. Etwas Konkretes ließ sich nicht in Erfahrung bringen. Das gab
unweigerlich jeder Art von Gerüchten Raum. Allgemein war man sich einig, dass
es nicht ratsam schien, sich mit Johann Jäger anzulegen. Es wurde über geheime
Spezialeinheiten und Geheimdienste gemunkelt.
Seine junge Frau, in zweiter Ehe, kannte Vincente persönlich. Obwohl Nora
Trautmann nicht zu seiner Gemeinde gehörte, setzte sie sich großzügig für
soziale Projekte ein. Jäger selbst begegnete er heute zum ersten Mal. Er konnte
die Klatschgeschichten, die über diesen Mann in Umlauf waren, jetzt wesentlich
besser nachvollziehen. Und das nicht nur wegen seiner beeindruckenden Statur.
Er bewegte sich geschmeidig, wie ein kampferprobtes Raubtier. Ein Soldat, ohne
Zweifel.
Ein Krieger!
Wo kam das schon wieder her?
„Vielleicht wäre
es besser, wenn wir uns oben weiter unterhalten?“, schlug Jäger vor. Unter dem
unbeugsamen Blick nickte der Priester. „Ja, natürlich!“
Mission auf
ganzer Linie gescheitert!
Was hatte er sich nur dabei gedacht? Er musste die
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