Lebenselixier
hysterischste Geschrei
hätte Nora und Johann nicht veranlassen können, das Zimmer zügiger zu
verlassen.
Lukas Hände lagen
vor ihm, als hielte er sich an der Tischplatte fest. Seine Miene zeigte die
unbewegte Fassade, die er stets aufsetzte, wenn er sich keine Blöße geben
wollte. Dass Lukas es ausgerechnet jetzt für nötig hielt, sich derart vor ihr
zu verschließen war schmerzlich. Obwohl er ihr gegenübersaß, fühlte sie sich allein
gelassen.
„Ich kann das
einfach nicht glauben“, brachte sie hervor. „Versteh mich nicht falsch. Ich
denke nicht, dass ihr mich belügt. Ich kann das nur nicht ...“
Lukas nickte, schüttelte den Kopf, nickte wieder. Es war, als wären sie beide
keiner Sprache mehr mächtig.
„Zeig es mir!“, brach es aus Tony heraus. „Zeig es mir, damit ich es verstehe!“
„Hast du nicht zugehört? Ich werde dir wehtun. Dich vielleicht schwer
verletzen. In der Transformation bin ich nicht ich selbst.“
„Das ist lächerlich!“ Tonys Finger glitt über brüchiges Pergament, folgte der
Linie einer Zeichnung. „Na schön. Nehmen wir mal an, du bekommst tatsächlich
Wülste im Gesicht und Oberarme wie eine Comicfigur. Aber das da? Soll ich
ernsthaft glauben, dass dir so ein riesen Ding wächst?“
Lukas griff nach dem Buch, blätterte eine weitere Seite um und schob Tony den
Band wieder zu. Diese Abbildung stellte offensichtlich einen erigierten Penis
dar. Einen wahrhaftig riesigen Penis. Irgendetwas stimmte damit nicht. Tony
drehte die Zeichnung ratlos hin und her.
Lukas gab ein genervtes Brummen von sich, riss Tony das Buch aus der Hand und
reichte es ihr richtig herum zurück. „Das ist von unten gesehen“, blaffte er.
Tony blinzelte. „Sind das - Widerhaken?“
„Das ist es, vermute ich jedenfalls, was Nora vorhin mit anatomisch korrekt
gemeint hat. Und es ist der Grund, weshalb ich denke, dass ich dir ernsthaft
wehtun werde!“
Tony betrachtete die Zeichnung noch einen Moment, konnte nicht anders, als
darüber nachzusinnen, in welchen Teil ihrer Anatomie sich diese Haken genau
hinein graben würden. Sie schluckte vernehmlich.
„Dann – hast du das noch nie gemacht?“
Lukas zögerte kurz. Tony wusste, dass er es lieber abgestritten hätte.
„Doch. Einmal. Es war ... eine medizinische Untersuchung. Um festzustellen, ob
wir richtig funktionieren. In der Schule. Als ich sechzehn war. Das ist so
üblich.“
Bei jeder anderen Gelegenheit hätte Tony Lukas Bemühen, trotz seines Unbehagens
ehrlich zu ihr zu sein, wahrscheinlich zu schätzen gewusst. Aber sie war
einfach nicht in der Verfassung.
„Und wie ist das abgelaufen? Ich meine, wenn ihr euch doch nicht bremsen
könnt.“
Lukas lachte rau. „Indem wir es tun, eben! – Es ist kein ganz realistischer
Test, weil die Transformation weiß, dass sie sich mit Frauen, die keine
Gefährtinnen sind, nicht fortpflanzen kann. Nicht, dass wir uns hinterher
sonderlich gut daran erinnern könnten.
Ich weiß nur, was passiert ist, weil wir dabei gefilmt wurden.“
Tony keuchte. „Jeremias sagt also zu dir: ‚Mach!‘, und du tust es? Lässt dich
filmen dabei! Machst du alles, was der Kerl von dir verlangt?“
Lukas atmete tief ein und zwang sich, Tonys Blick zu begegnen.
„Wie fändest du es, wenn du in einen Zustand geraten könntest, in dem du dich
völlig veränderst? In dem du Dinge tust, an die du dich später kaum erinnerst?
Würdest du nicht auch wissen wollen, was da mit dir geschieht?“
„Wahrscheinlich schon“, gab sie nach einer Weile zu. Das Eingeständnis kostete
sie sichtlich Überwindung.
„Ich verstehe nicht. Wie kommt es dazu, dass ihr euch verändert?“
„Die Transformation auszulösen ist, als würde man einen Muskel anspannen.
Danach läuft alles ab wie ein Programm. Die körperliche Veränderung ist
verdammt schmerzhaft. Daran erinnern wir uns hinterher am besten. Wie die
Krallen durch die Finger brechen und die Zähne wachsen. Als würde es einen von
innen nach außen zerreißen.
Ich bin wirklich froh, den Film gesehen zu haben. Ich wollte zuerst nicht.
Jeremias hat mich überredet. Er hat mir gesagt, dass es meistens nicht so
schlimm war, wie wir es in Erinnerung behalten. Und er hatte recht.
Die Sicht verändert sich sehr stark. Ebenso das Gehör. Ich hatte den Eindruck,
diese Frau hätte sich die ganze Zeit vor Schmerzen gewunden und aus
Leibeskräften geschrien. So wie auf dieser Zeichnung. Ich war sicher, sie
ernsthaft verletzt zu haben.“
Lukas wich ihrem Blick aus.
„Das war eine Fremde,
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