Lebenselixier
genug, es
ihr nicht vor eurer Vereinigung zu sagen. – Das soll kein Vorwurf sein. Nora
und ich haben Tony immer wieder zugeredet. Uns trifft die Schuld genauso.“
„Hast du es Nora vorher gesagt?“
Johann schüttelte, nach kurzem Zögern, den Kopf. Lukas überraschte dieses
Eingeständnis nicht. Er konnte sich den Bluttrinker nicht vorstellen, der
seiner zukünftigen Gefährtin aus freien Stücken von der Transformation
erzählte.
„Allerdings sind
fast fünfzig Jahre vergangen, bevor Nora auf die Idee kam, schwanger werden zu
wollen. Oder vielmehr, bis sie anfing, sich ernsthaft zu sorgen, weil sie es
nicht wurde. Es fiel ihr schwer, mit mir darüber zu sprechen. Sie fürchtete,
sie könnte unfruchtbar und ich darüber enttäuscht sein.“ Johann schüttelte
reuevoll den Kopf. „Ich muss mir zum Vorwurf machen, dass ich sie unnötig lange
in dieser Vorstellung habe schmoren lassen.“
„Aber schließlich hast du ihr gesagt, dass du gar keinen Nachwuchs haben
willst.“
Johann schwieg und betrachtete die verschiedenfarbigen Bruchsteine, aus denen
die gegenüberliegende Mauer bestand.
Lukas setzte sich auf, zog die Beine an, sodass er im Schneidersitz auf dem
Sargdeckel hockte. Es lag etwas entschieden Vorwurfsvolles in der Art, wie er
seinen Vater musterte.
„Das waren andere Zeiten damals. Es war ganz selbstverständlich für diejenigen
unter uns, die eine Gefährtin gefunden hatten, unsere Gene weitergeben zu
wollen. Sicher nicht eine Truppe blutseigener Krieger produzieren, wie das in
den alten Zeiten üblich war. Aber doch einen Sohn zeugen, der unsere Linie
fortführt.“
Lukas wandte den
Blick ab. Er verstand, dass sich die Vorstellungen der Bluttrinker mit den
Jahrhunderten ebenso verändert hatten wie die der Menschen. Und er war sich
bewusst, dass zwischen ihm und Johann eine Menge Zeit lag.
„Entschuldige.“ Viele Bluttrinker im Alter seines Vaters würden sich auf ein
solches Gespräch gar nicht erst einlassen. „Ich kann nur die Vorstellung, was
ich Tony antun könnte ...“ Lukas verstummte mitten im Satz.
Johann schnaubte ungeduldig. „Es ist wahr, junge Leute sind einfallslos.“
„Was?“
„Ich verstehe ja, dass du Bedenken hast, Tony zu verletzen. Aber ist das
wirklich alles, was dir einfällt? Die Flinte ins Korn werfen?“
„Was sollte ich deiner Meinung nach tun?“
Johann tippte seinem Sohn an die Schläfe. „Deinen angeblich nicht unerheblichen
Grips benutzen. Ständig erzählen mir andere Bluttrinker, was für einen
aufgeweckten Jungen ich habe.“
Lukas starrte seinen Vater ratlos an. „Was könnte ich denn tun? Niemand hat
Kontrolle über die Transformation, oder?“
Johann grunzte missbilligend und erhob sich.
„Dann muss ich dir die Lösung des Problems wohl zeigen. Wenn du mal eben
aufstehen würdest?“
Er wartete, bis
Lukas mit verwirrtem Gesicht neben ihm stand, bevor er den Deckel des Sarges
anhob. Lukas starrte einen Augenblick verblüfft, dann begann er zu lachen.
„Das war deine Idee?“, fragte er schließlich.
Johann wehrte ab. „Ich sage dir, Frauen kommen auf die verrücktesten Einfälle,
wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt haben.“
„Nein!“
Tony schlug das dünne, vergilbte Buch energischer zu, als sie es sonst mit
einem so alten und wahrscheinlich wertvollen Gegenstand getan hätte. Es
handelte sich um eine Handschrift. Tony konnte die verschnörkelten Lettern
nicht entziffern. Doch die zahlreichen Illustrationen sprachen für sich.
Menschen mochten im Mittelalter dergleichen verzapft haben. Insbesondere, wenn
es sich bei dem Verfasser tatsächlich um jenen spanischen Inquisitor gehandelt
haben sollte. Aber damit war ihre Bereitschaft zu akzeptieren, was ihr hier
angetragen wurde, auch schon aufgebraucht.
Nora beugte sich
über den Tisch, zog den Einband zu sich herüber und blätterte vorsichtig. Eine
Zeichnung ließ sie innehalten.
„Das ist furchtbar“, verkündete sie.
„Meines Wissens sind das die einzigen realistischen Darstellungen der
Transformation.“ Johann klang entschuldigend. „Die Leute im Mittelalter hielten
schreiende Frauen, in diesem Zusammenhang, wohl für ein unerlässliches
Stilmittel.“
Nora winkte ab. „Das meine ich nicht. Das ist eine anatomisch korrekte
Abbildung eines transformierten Bluttrinkers. Wenn die Bilder von diesem
grauenvollen Inquisitor stammen, möchte ich gar nicht darüber nachdenken müssen,
wie der Kerl das herausgefunden hat.“
Johann starrte seine Gefährtin verblüfft an.
Tony nahm
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