Lee, Sharon & Miller, Steve - Liaden 1 - Eine Frage der Ehre V2
tiefe Verbeugung, dass seine Stirn die Knie berührten.
»Ich bitte um Gnade, o Dreifach-Gesegnete. Es lag mir fern, Ihre Heiligkeit zu brüskieren.«
Es war nicht gerade eine Selbsterniedrigung, denn seine Wut, die Empörung eines Hochgeborenen, der gezwungen wird, sich zu entschuldigen, umgab ihn wie eine Fackel aus knisternder Elektrizität. Und die Dreifach-Gesegnete war keineswegs besänftigt. Ihr Stab peitschte durch die Luft und schnitt ihm den Fluchtweg ab.
»Dir ist keineswegs vergeben! Du wirst bestraft, wie es sich gehört. Eine öffentliche Auspeitschung …«
»Und ich sage, es reicht!«, schnappte Priscilla, all ihre Strenge, Autorität und Seelenstärke in die Stimme legend. »Du wirst doch nicht diese Person geißeln lassen, welche das Mal der Großen Mutter trägt?« Sie streckte die Hand aus und zeichnete vor Shans Gesicht eine Figur in die Luft. Derweil funkelte sie die Priesterin überheblich an.
»In diesem Mann steckt mehr, als es den äußeren Anschein hat. Er verfügt über dieselben Kräfte wie eine Schwester des Tempels. Man hat ihn in die Geheimen Lehren eingeweiht, er verfügt über seltene Gaben und ist Träger eines Mysteriums. Und noch viel mehr!«
Die Priesterin ging in das geschickt gesponnene Netz aus Worten und ließ sich einfangen. Priscilla zog stark an den Fäden ›Autorität‹ und ›Strenge‹, betonte die Begriffe ›Mysterium‹ und ›Glauben‹, dann begann sie mit dem Vorgang des Webens. Plötzlich vergegenwärtigte sie sich, dass sie nicht die einzige Kraft war, die sich der Lage annahm, sondern dass jemand ihr half; unterschwellig, aber nicht zu ignorieren, vernahm sie Schwingungen aus Leidenschaft und Stärke, mal abgeschwächt, dann wieder deutlicher, eine großartige Sinfonie aus fein abgestimmten, positiven Gefühlen, schier überwältigend in ihrer Majestät.
Es war Shan, der auf allen Ebenen seine medialen Kräfte aussandte.
Eingesponnen in das Netz aus Worten, schnappte die Dreifach-Gesegnete entsetzt nach Luft; sie hob eine Hand, um sich vor dem emotionalen Bombardement zu schützen.
Priscilla versuchte Änderungen am Netz vorzunehmen. Shan musste sich in dem Gespinst verfangen haben; offenbar kam er nicht los vom Echo der Falle, in der die Dreifach-Gesegnete steckte …
Die Melodie brach ab, setzte erneut an und rutschte in einem Glissando nach unten; mit jedem tieferen Ton verblasste die Kraft ein wenig mehr, bis der letzte Nachhall eine Weile in der Schwebe blieb und mit seinem Vibrieren Regenbogen erzeugte … dann trat Stille ein. Die Dreifach-Gesegnete hing in ihrem glitzernden, rätselhaften Netz.
»Du hast es gesehen«, intonierte Priscilla, derweil sie die Fäden vorsichtig entwirrte, »und du hast es gehört. So soll es sein. Wir leben in gesegneten Zeiten, Schwester, in denen Zeichen und Wunder geschehen. Beobachte alles ganz genau und vertraue darauf, dass die Göttin jede Einzelne von uns beschirmt.«
»Ollee«, murmelte die Priesterin. »Ich fühle mich privilegiert, wurde mir doch die Gnade eines Wunders zuteil. Ältere Schwester, ich bitte um Vergebung. Und ich erflehe deinen Segen.«
Priscilla hob eine Hand und schlug die korrekten Zeichen über den Augen, den Ohren und dem Herz der Schwester. »Im Namen der Allweisen Göttin vergebe ich dir, wie sie vergibt ihren Kindern. Wandle in ihrer Gunst, tue Gutes, sei eine fromme Dienerin.«
Die Frau trat bescheiden zurück. Priscilla drehte sich um und gab Shan einen Wink. Gemessenen Schrittes, ohne einen Blick nach hinten zu werfen, setzten sie ihren Weg fort.
Shan ließ sich auf den Kopilotensitz fallen und lehnte sich erschöpft nach hinten. Er öffnete ein Auge und blinzelte. »Wenn Sie das nächste Mal in einer solchen Angelegenheit meine Unterstützung brauchen, Priscilla, dann warnen Sie mich bitte vorher.« Er klang teils amüsiert, teils abgekämpft. Sein Muster … sein Muster war weg.
Nein! Sie erforschte die inneren Pfade, auf der Suche nach seiner Seelengüte, wie eine blinde Person, die danach giert, das Gesicht in die wärmenden Strahlen einer Sonne zu halten. Aber sie stieß nur auf blanke, kühle Flächen, als würde sie eine Ebene aus Spiegelglas abtasten; er verweigerte sich ihr, ohne sie von sich zu stoßen. Irgendwo hinter dieser glatten Wand hielt er sich versteckt …
»Priscilla?«
Sie konzentrierte sich auf die Wege, die nach draußen führten, und rang um Gelassenheit. »Es kam mir gar nicht in den Sinn, Sie vorher zu fragen. Ich dachte – ich hatte Angst,
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