Lehmann, Christine
rechtsseitigen Taschen meines Parkas. Da war er ja. »Nemkova Ostend 74 b«. Allerdings war es nicht meine Schrift. Ich drehte den Zettel um. Da stand es noch mal so ähnlich: »Jovana Nemkova, Ostendstraße 74 b.«
Wie jetzt?
Ehe ich einen intelligenten Gedanken fassen konnte, fuhr mir eine Frau den Kinderwagen in die Haxen. Platz da, ich bin Mutter! »Andere wollen auch vorbei!«
»Sie sind ja echt gestraft«, bemerkte ich.
Die ju n ge Mutter stoppte. »Wie meinen Sie das?«
»Sie haben mal gedacht, die Gesellschaft werde Sie auf Händen tragen, weil Sie helfen, die Rente zu sichern. Aber nix is, babela! Sie stören nur!«
»Das ist nicht witzig!« Sie echauffierte sich. »Für ein altes Auto bekommt man 2500 Euro Abwrackprämie! Und was kriege ich aus dem Konjunkturpaket?«
»Kriegen Sie denn was?«
»Ganze 100 Euro kriege ich. Einmalzahlung! Finden Sie das richtig?«
»Nee. Natürlich nicht.«
Die junge Frau holte schon Luft, um versöhnlich wei terzu schimpfen .
»Ich finde«, sagte ich, »in Bolivien oder Afrika wären die 100 Euro besser angelegt! Damit retten Sie das Leben von vier Kindern. Hier dagegen reicht es gerade mal für …«
»… sieben Monate Pampers!«, pampte die Frau mich an. »Und ich finde, dass alle, die keine Kinder großzi e hen, mehr Steuern zahlen müssten.«
»Tun wir. Und Sie, zahlen Sie überhaupt Steuern?«
»Wissen Sie, was ein Kind kostet?« Sie wartete meine Antwort nicht ab. »5600 Euro im Jahr, wenn Sie nicht von allem das Billigste kaufen. Das hat mal jemand au s gerechnet. Und da ist die Kinderbetreuung noch gar nicht mit drin!«
»Sie kriegen doch Kindergeld.«
»Lächerliche 1900 Euro aufs Jahr.«
»Und einen Steuerfreibetrag gibt es sicher auch. Falls Sie überhaupt Steuern zahlen.«
Sie lachte bitter. »Mehr als 3000 Euro sind das nicht, wo mein Mann absetzen kann. Die, wo viel verdienen, können auch …«
»Gibt es nicht auch noch das Elterngeld für die ersten 14 Monate?«, fragte ich weiter. »Immerhin 65 Prozent Ihres vorherigen Einkommens.«
»Bei mir ist es nur der Mindestsatz, 300 monatlich.«
»Das wären immerhin 3600 Euro im Jahr. Und Eltern mit geringem Einkommen, kriegen die nicht auch einen Kinderzuschlag?«
»Lächerlich! Höchstens 1600 im Jahr.«
Die Not machte mein Gehirn zahlengeschmeidig. »A l so, da komme ich jetzt überschlägig auf rund 10000 E u ro, die wir – ich und andere Steuerzahler – Ihnen z u kommen lassen. Das ist knapp das Doppelte von dem, was Ihr Schneckle Sie in seinen ersten Lebensjahren so kostet. Da machen Sie einen guten Schnitt, finde ich.«
Plötzlich verstand ich, warum die Leidenfrosts locker sieben oder acht Kinder werfen und sich eine Wohnung leisten konnten, ohne sich rettungslos zu verschulden.
»Aber für jeden Euro, den ich kriege«, trumpfte die junge Mutter noch einmal auf, »muss ich aufs Amt und betteln gehen. Alles muss ich offenlegen. Anträge ausfü l len. Das ist demütigend.«
»Sie tun mir ja so leid«, sagte ich. »Da Ihnen offenbar Ihr Kind auch keine Freude macht.«
Die Frau schnaubte und nahm den nächsten Passanten aufs Korn. Der Kinderwagen hatte eine extra Stoßstange dafür, einen Achillesfersencutter. So einen musste R i chard sich für Alena anschaffen, dachte ich. Und dann beim öffentlichen Fußballgucken auf dem Schlossplatz die Viertelmillion durchpflügen.
Die junge Frau am Uniparkplatz wanderte mir im Hin terkopf durch die Erinnerung. Auch sie hatte nicht glücklich ausgesehen. Vielleicht machte Kinderwage n schieben das aus Menschen. Erst die durchwachten Nächte, dann stundenlange Wanderungen, weil die Bl a gen nur im W a gen Ruhe gaben. Das schuf Hass auf die Kinderlosen, die es besser hatten, weil sie klüger gew e sen waren. Der Schnuller fiel mir ein, den Cipión zerkaut hatte. Ich sah den Zettel wieder vorm inneren Auge, der unter Deppers Leiche auf Alenas Gesichtchen gelegen und den ich ei n gesteckt und bisher nicht wiedergefunden hatte.
Und jetzt hielt ich ihn unvermutet in meiner Hand. Auf seiner Rückseite hatte ich die Adresse von Katarinas Freundin notiert, dieselbe Adresse. Und plötzlich fiel mir auch ein, wo ich den Namen Nemkova schon mal ges e hen hatte: auf dem Schild auf der Theke in Detlef De p pers Kanzlei. Seine Sekretärin hieß so.
23
Eine freundliche Alte in Röcken und Stützstrümpfen empfing mich. Sie lächelte viel und verstand fast nichts.
»Jovana?«, fragte ich.
Die Alte tippte auf die Uhr. »Schule.«
»Und
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