Lehmann, Christine
Katarina?«
Die Alte lächelte.
»Haben Sie noch eine Tochter?«, fragte ich.
Die Alte lachte.
»Eine Tochter, sie arbeitet beim Anwalt Depper?« Ich ertappte mich, dass ich schrie, als müsse die Alte schwe r hörig sein. »Depper!«
Die Alte nickte erfreut. »Eliska. Meine Tochter. A r beit.«
»Eliska und Jovana?«
Die Alte nickte.
»Katarina?«, fragte ich mit neuer Hoffnung. »Freundin von Jovana. Amiga …« Falsch. »Friend!« Endlich der Beweis, dass meine einstige Ausbildung zur Fremdspr a chensekretärin – Französisch, Englisch, Spanisch – nicht mehr weiterhalf, wenn der Ostblock offen war. Meine Mutter hatte sich geirrt! Jetzt hatte ich sie ertappt. Ich wusste nicht einmal, was für eine Sprache ich hätte a n steuern müssen. Nemkova? Tschechisch, Russisch, L i tauisch?
»Katarina Schule?«, fragte ich hoffnungsvoll.
Die Alte nickte. »Sie von Jugendamt?«
Ich schüttelte den Kopf und suchte nach einem Un i versalwort. »Journalistin.«
Die Alte freute sich. »Zurnaliska!« Sie tippte wieder auf ihre Uhr, redete auf mich ein und schob mich in ein Zimmer. Eine so kleine Wohnung hatte ich überhaupt noch nicht gesehen. Im Flur hatten gerade zwei Personen Platz, wenn sie Körperkontakt nicht scheuten, im Woh n zimmer konnte man sich zwischen Stühlen, Tisch und S o fa nicht einmal mehr drehen. Wie man hineingegangen war, musste man wieder hinausgehen. Ich entschied mich für den linksseitigen Krebsgang und ließ mich ins Sofa fallen.
»Wieso Jugendamt?«, fragte ich. Wenn die Alte von all den deutschen Wörtern, die sie nicht konnte, ausg e rechnet das Wort Jugendamt beherrschte, musste es B e deutung haben.
»Jugendamt!« Die Alte nickte. »Nix Jugendamt.«
Sie nickte freundlich und stellte mir ein Schnapsglas hin. Ich lehnte ab. Gestisch! Aber auch das verstand sie nicht. Unerbittlich goss sie sich und mir aus einer Wo d kaflasche ein. Randvoll. »Jugendamt, Deiwel! Jugendamt dite . ..« Sie machte mit der rechten Hand die Diebstahl s geste und nahm das Glas. »Na zdravi!«
Das klang fast wie »nastrowje«, aber eben nur fast.
Eine Dreiviertelstunde später hatte der Wodka den Tennisball in meiner Schulter zu einem pulsierenden Basketball aufgetrieben, aber es war mir egal. Denn dafür hatte ich erfahren, dass die Alte und ihre beiden Töchter Eliska und Jovana aus Tschechien kamen und viel Schicksal hinter sich hatten. Welches, blieb in der Sprachbarriere stecken. Dann hörte ich Schlüssel in der Wohnungstür, und nacheinander traten ein und reihten sich auf Sofa und Stühlen zu beiden Seiten des Tischs auf: Katarina, ihre Freundin Jovana und Eliska aus De p pers Kanzlei. Die Alte trug ein Mittagessen auf, dem zu entkommen ich keine Chance hatte, denn ich hatte ans Ende des Sofas rücken müssen.
Katarina beteuerte, dass sie erst einmal hierbleiben konnte, was Jovana vehement unterstützte, auch wenn ich mir kaum vorstellen konnte, wo in dieser Wohnung ein aufgeschossener Backfisch wie Katarina Platz finden würde, um sich zum Schlafen auszustrecken.
»Das geht schon«, bestätigte Eliska Nemkova, die am Tisch ihrer Mutter trotz ihres Kanzleikostüms kaum älter als die Schwester wirkte. »Ich schlafe solange bei einer Freundin.«
»Aber auf Dauer ist das keine Lösung«, bemerkte ich. Eine Bemerkung von völlig unsinniger Vernunft. Es musste am Wodka liegen. Denn was wäre die dauerhafte Lösung? Staatsfürsorge, Triumph des Jugendamts. Dem hätte ich nüchtern nie das Wort geredet.
»Und wie«, fragte Eliska über Teller und Tisch hi n weg, »geht es der kleinen Irina?«
»Alena?«
Es war, als hielten Gabeln und Münder am Tisch plötzlich inne.
Eliska lachte. »Alena, Irina, klingt ähnlich, nicht wahr? Sie ist so süß. Ich habe mich richtig in sie verliebt. Hat er sie adoptiert?«
»Wer? Richard Weber? Nein.«
Am Tisch herrschte atemlose Anspannung. Sie hatte sogar auf Katarina übergegriffen. Sie hingen an meinen Lippen. Und in meinem Kopf schwappte der Wodka.
»Nein«, wiederholte ich. »Wir suchen die Eltern.«
Stille machte sich auf dem Tischtuch breit. Teller, Besteck und Arme klebten daran fest. Ich war schon la n ge nicht mehr so betrunken gewesen. Und in ein paar Stu n den musste ich zu meiner Mutter fahren. Sag ab, dachte ich. Sag doch einfach ab. Aber meiner Mutter sa g te man nicht einfach ab, weil man einen Tennisball in der Schu l ter hatte, der pochte, oder müde und besoffen war. Meine Mutter betrachtete sich als Prüfung der Tochterliebe, j e ner
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