Leise Kommt Der Tod
sagte, sie sei Russin gewesen.«
»Ja, ich glaube, das stimmt. Aber sie hat schon längere Zeit in den Staaten gelebt.«
»Das Ding im Keller … der …«
»Der Kanopenkrug?«
»Ja. Mr. Keane sagte, er stamme aus Ägypten. Und dass man ihn zum Aufbewahren von Leichen verwendet hat oder so ähnlich.«
»Nicht Leichen. Innere Organe. Für Leber, Lunge, Magen und Eingeweide.« Sie weidete sich an seiner entsetzten Miene angesichts dieser Erklärung.
»Ist so ein Ding denn sehr wertvoll?«
»Allerdings«, warf Ian ein.
»Wirklich? Also gut, das war es erst mal.« Er winkte ihnen zum Abschied und steuerte die junge Frau an, die damit beschäftigt war, die Daten aller anwesenden Personen aufzunehmen. Einige von ihnen arbeiteten im Museum, andere am Institut wie Sweeney, eine weitere Gruppe war ihr unbekannt. Plötzlich ertappte sie sich dabei, jeden zu verdächtigen. Ein großer Mann in einem dunklen Anzug wirkte besonders zwielichtig, aber vielleicht hatte er einfach nur Pech mit seinem Aussehen.
Sweeney wusste, dass sämtliche Personen danach befragt werden mussten, wo sie sich bis zum Auftauchen von Olgas Leiche aufgehalten hatten. Sie und Ian hatten oben mit Lacey gesprochen. Wer war sonst noch im Raum gewesen? Sie versuchte sich zu erinnern. Am Eingang zum ersten Ausstellungsraum hatte sich eine Gruppe von Leuten unterhalten, die sie nicht kannte. Sie erinnerte sich daran, dass eine der Frauen einen langen, bestickten Mantel getragen hatte. Augenblicklich ließ sie ihren Blick auf der Suche nach jener Person durch den Raum schweifen. Bei ihr waren zwei Männer und eine blonde Frau gestanden, wo waren diese Leute jetzt? Außerdem hatte sich eine Fünfergruppe von der kunstgeschichtlichen Fakultät in ihrer Nähe aufgehalten. Zusammen also neun Personen, die sich alle im zweiten Stock befunden hatten, als sie die Treppe hinuntergegangen war. Die Toiletten im Erdgeschoss waren alle besetzt gewesen, außerdem war sie unterwegs drei Mitgliedern der Fakultät für Frauenstudien vorgestellt worden, die ihre Ausstellung ebenfalls besucht hatten. Sie alle hatte sie in Jeannes Gesellschaft gesehen.
Ihrer Vermutung nach war derjenige, der versucht hatte, den Kanopenkrug zu stehlen, längst über alle Berge. Quinn musste natürlich trotzdem sämtliche Anwesenden routinemäßig befragen. Soweit sie wusste, war außer Jeanne und ihr niemand in
den Keller gegangen, abgesehen von den Leuten, denen Willem zuvor den Kanopenkrug gezeigt hatte.
Plötzlich fiel ihr Fred ein. Wo war er eigentlich die ganze Zeit gewesen? Lacey hatte von einem Telefonat gesprochen.
Im Laufe der letzten Monate hatte sie Fred ziemlich gut kennen gelernt, aber wenn sie genauer nachdachte, wusste sie nicht gerade viel über ihn. Er hatte wie sie selbst seinen Studienabschluss an der Universität gemacht. Gemeinsam mit Lacey hatte er eine Tochter im Collegealter und einen erwachsenen Sohn, der in Seattle lebte. Außerdem beschäftigte er sich hobbymäßig mit Fotografie. Mehr hatte er nicht von sich preisgegeben.
»Also das nenne ich mal einen lupenreinen Bostoner Akzent.«
Sweeney wandte sich an Ian. »Wie bitte?«
»Dein Polizistenfreund. Er hat einen ganz schönen Akzent.«
Sweeney wartete einen Moment. »Du hast doch selbst auch einen ziemlichen Akzent.«
Er machte ein gekränktes Gesicht. »Ich habe das doch nicht böse gemeint.«
»Ach so.« Sie starrten sich für eine Minute in die Augen, ehe sie als Erste den Blick senkte. »Ich bin wohl ziemlich sensibel, wenn es um den Bostoner Akzent geht.«
»Ich mag deinen Akzent.«
»Dabei habe ich eigentlich gar keinen.« Ian zog eine Augenbraue hoch.
Sie war zu müde, um das Thema weiterzuverfolgen. »Lass uns da rübergehen«, meinte sie und zeigte auf eine Gruppe Klappstühle am anderen Ende der Galerie, die bereits von einigen Wartenden besetzt war.
»Ich frage mich, wie lange wir noch hier rumstehen müssen«, sagte Fred. »Ich meine, was können wir denn schon tun? Wenn jemand dem Täter begegnet wäre, hätte er es der Polizei doch längst mitgeteilt, oder etwa nicht?«
»Wahrscheinlich versuchen sie gerade, den Tathergang zu rekonstruieren«, sagte Sweeney. »Sie wollen wissen, wer von uns sich wo aufgehalten hat, wen wir in der Nähe gesehen haben, diese Sachen. Und sie müssen jeden hier einzeln befragen, deshalb stell dich besser auf eine längere Wartezeit ein.«
»Hier gibt es doch mit Sicherheit Kameras«, warf Ian ein. »Warum sehen sie sich nicht einfach die Bänder an, um
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